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Prof. Dr. Kurt Singer

Angst vor dem Aufgerufen-werden im Unterricht

Aufgerufen-werden - „Sadistischer Mini-Thriller in Grusel und Frohlocken“?

Werde ich heute ausgefragt? – Wer von uns wird heute dran kommen? – Ruft mich der Lehrer auf? – Muss ich an die Tafel? – Nicht wenige Schülerinnen und Schüler beunruhigen solche Fragen beim Frühstück. Für viele gehört es zum Wesen der Schule, abgefragt zu werden, ohne zu wissen, ob sie es heute trifft. Eltern halten das Furcht einflößende Ritual des Ausfragens für selbstverständlich. Dabei erweist sich dieses Abfragen wegen seines Angst auslösenden Charakters wenig sinnvoll. Zudem ist es taktlos, Kinder „dran zu nehmen“, ohne dass sie sich zu Wort melden; denn oft werden sie dadurch einer peinlichen Situation ausgesetzt.

Immer wieder erzählen Schüler von der Angst im Unterricht plötzlich aufgerufen, ausgefragt- und abgefragt zu werden. Sie fürchten sich vor der für manche qualvolle Situation, an die Tafel gehen und vorrechnen zu müssen. Ein Erwachsener (7) beschreibt rückblickend, welch seelisch-leibliche Katastrophe es für Jugendliche bedeuten kann, „dranzukommen“.

Das Klassenzimmer ist des Menschen größte Erinnerungskammer, und die Schulzeit eine irre Mischung aus Grusel und Frohlocken. Jener Minithriller zum Beispiel, jene kleine Studie in Sadismus, mit der die Unterrichtsstunde von manchen Lehrern eröffnet wird: das Ritual des Abfragens. Raus aus der Geborgenheit der Klassengemeinschaft, vor an die Tafel. Wer soll es diesmal sein, es raschelt im Büchlein, Seite für Seite, Buchstabe für Buchstabe. Der Atem stockt, das Herz will galoppieren, ein Schweißausbruch kündigt sich an. Und dann, Sekunden, bevor der Name fällt, die blitzartige Gewissheit – diesmal bist du dran...

Mit Angst können Schüler nicht gut lernen – Die Gefahrensituation überdeckt den Lernvorgang

Bereits in der Angstsituation läge die Begründung, das Abfragen abzuschaffen, denn in ihr wird Lernen zur Nebensache. Nicht auf den Lerninhalt konzentrieren sich die Schüler, sondern darauf, die Gefahr des Drankommens abzuwenden oder ihr möglichst schnell zu entgehen. Armin beschreibt seine Strategie gegenüber einem gefürchteten „Abfrage-Lehrer“ so:

„Meine Gedanken kreisen darum, wie ich mich am besten verhalte, um nicht drangenommen zu werden. Ich muss den Lehrer genau beobachten, um herauszufinden, wie ich dem Überfall entkomme. Wenn ich ihn interessiert angucke, nimmt er mich vielleicht nicht dran? Oder soll ich lieber wegschauen? Oder zustimmend mit dem Kopf nicken? Oder etwas aus der Schultasche ziehen? Oder die Arme verschränken? Soll ich mich melden, damit er einen anderen dran nimmt? Muss ich mich möglichst unauffällig verhalten?… Das beschäftigt mich in meiner Angst. Aber was der Lehrer über den Lernstoff sagt, kann ich in dieser Situation nicht aufnehmen.“

Mehr richtige Antworten bei ermutigendem Unterrichtsklima

Frederic Vester (8) führte einen Test mit mehreren Schülergruppen verschiedener Klassen durch. Dabei wurde ein gut durchgearbeiteter Lernstoff einige Wochen später abgefragt. Und zwar auf verschiedene Art, nach einem ausgeklügelten Verteilungsschlüssel, der gesicherte Aussagen erlaubte. In der einen Schülergruppe fragte der Lehrer in einer freundlichen, ermutigenden Weise. In lockerer Atmosphäre und klarer Problemstellung forderte er die Schüler auf, ihre Kenntnisse zu zeigen. In einer anderen Schülergruppe lief die Wissenskontrolle in einer einschüchternden Atmosphäre ab. Die Schüler wurden unpersönlich und unwirsch behandelt; der Lehrer drückte aus, dass er nicht viel von der Klasse hielt. Die Wirkung dieser unterschiedlichen Behandlung beim Abfragen des Lernstoffes war deutlich:

  • Bei der Schülergruppe, die in einem Klima ohne Angst und Druck gefragt wurde, wussten 91 Prozent die richtige Antwort.

  • In der Schülergruppe, die unter Angst und Abwertung nachdenken musste, waren es nur 50 Prozent, die zutreffend antworteten.

Könnten solche – durch die Pädagogische Psychologie wiederholt aufgezeigten – Auswirkungen von angstvoller oder freundlicher Unterrichtsatmosphäre nicht auch die Eltern zur Besinnung bringen? Sie würden dann zum Beispiel dafür eintreten, das hunderttausendfache Angstmachen im Schulalltag abzuschaffen.

In die „Erinnerungskammer Klassenzimmer“ hinabsteigen – „Uns hat es auch nicht geschadet?“

Lehrerinnen und Lehrer könnten in den Kindern viel Lern-Energie freisetzen, wenn die Schüler sicher wären: „Ich werde nur dann aufgerufen, wenn ich mich zu Wort melde. meine Lehrerin stellt mich nie bloß.“ Dazu müssten sie erkennen, wie sie – oft ungewollt – Schüler in Schrecken versetzen. Bei schüchternen Kindern ist es allerdings dramatischer als bei selbstbewussten.

Schülereltern halten leicht das im Klassenzimmer immerfort Vorkommende für „natürlich“ und schweigen. Es könnte sie zum Widerspruch anregen, wenn sie in ihre eigene „Erinnerungskammer Klassenzimmer“ hinab steigen und diese ausleuchten: Wie ging es mir als Kind? Welche Ängste und Freude erlebte ich im Unterricht? Wurde ich mit dem, was mich bedrückte ernst genommen? War es für mich angenehm, wenn ich aufgerufen wurde, und wie war es, wenn ich vor der Klasse stand und nichts wusste? Wie erlebte ich es, wenn sich schwächere Schüler blamierten? Standen mir meine Eltern bei, wenn ich über Angst machende Schulsituationen berichtete?

Mit der Kraft der Erinnerung eigene Schulerlebnisse zu wecken, ist oft mit seelischem Schmerz verbunden. Aber es macht „sehend“ und mitfühlfähig für das, was Kinder erleben. Es geht ihnen dann nicht so leicht der unbarmherzige Satz über die Lippen: „Uns hat es auch nicht geschadet“ oder „Da musst du eben durch“.

Wie wäre das für Sie, wenn Sie während einer Veranstaltung plötzlich aufgerufen würden?

Wenn Sie den bedrohlichen Finger auf sich gerichtet fühlten, womöglich mit einem befremdlichen Satz wie: „Wiederholen Sie, was ich gesagt habe!“ Besonders unangenehm ist es in einer Situation, in der Sie gerade etwas anderes gedacht, oder mit Ihrer Nachbarin geredet haben. Das erleben Schüler als besonders unfair, aufgerufen zu werden, wenn sie gerade „schwätzen“ oder „träumen“ oder nicht aufmerken: in Situationen also, in denen offensichtlich ist, dass sie nicht antworten können. Da wäre es anständiger, den Jugendlichen erst einmal „herzuholen“, statt ihn bloß zu stellen. Die Erwachsenen sollten sich vorstellen, wie es für sie wäre, wenn sie auf einem Elternabend „aufgerufen“, in einer Versammlung ausgefragt, während einer Sitzung, in der Bürgerversammlung oder in einer Runde mit Bekannten abgefragt würden. Wahrscheinlich bezeichneten sie einen so autoritär „aufrufenden“ Versammlungsleiter als taktlos.

„Der Schreck, „drangenommen“ zu werden, sitzt mir heute noch in den Knochen“ – Aufruf-Attacken verunsichern

Die Studentin Sophia R. berichtet in einem Seminar, wie der Aufrufe-Schreck aus der Schulzeit noch heute ihr Verhalten beeinflusst. Obwohl in dieser Veranstaltung nicht „aufgerufen“ wird, überfällt sie wiederholt die Befürchtung, sie könnte „drangenommen“ werden. Diese Angst wirkt sich auch in der Weise aus, dass sie sich nicht zu melden getraut; denn sie könnte etwas Falsches sagen: „Note sechs, setzen“, dieser Tadel geht ihr immer noch nach. Sophia berichtet:

Immer war ich wahnsinnig aufgeregt, wenn ich befürchtete, ich könnte ausgefragt werden. Da half mir auch nicht, dass ich ernsthaft gelernt und das Gelernte zu Hause noch sicher wiedergeben konnte. Für mich war es ein ungerechter Satz, den einer meiner Lehrer ständig verkündete: “Mach’ mir nichts vor, wenn du gut gelernt hast, brauchst du keine Angst zu haben.“ Ich hörte während der Unterrichtsstunde angespannt zu, um nur ja nichts zu versäumen. Aber wenn ich aufgerufen wurde, erschrak ich und merkte, wie mein Herz bis zum Hals herauf klopfte. Ich überlegte nervös, schaute in den Boden hinein und war verwirrt. Hilflos suchte ich in meinem Kopf nach Gedanken umher. Aber meine Gedanken waren wie blockiert. Irgendwie konnte ich selber nicht fassen, dass mein Wissen weg war. Ich spürte, wie in meiner Aufregungen heiße Wallungen in meinen Kopf stiegen. Manchmal hatte ich den Eindruck, wonach ich gefragt wurde, läge mir auf der Zunge, aber ich brachte es nicht heraus. Dann fing ich an, unsicher irgend etwas zu raten, sagte zögernd etwas Falsches. Und der Lehrer wusste eh, dass aus mir nichts heraus zu holen war. Ich bekam meine schlechte Note und wurde in Ruhe gelassen. Eine Mitschülerin sagte dann die richtige Antwort und ich saß enttäuscht da. Was mich am meisten ärgerte und mich richtig verzweifeln ließ: Kurz nachdem die Panik vorbei war, fiel mir wieder ein, was ich gelernt hatte. Jetzt hätte ich es aufsagen können; aber es war zu spät.

Denk-Blockaden: Stress-Hormone behindern das Denken

Sophia war durch den Aufrufe-Schock blockiert. Erst als der Schreck nachließ, konnte sie ihr Wissen wieder herholen. Viele kennen das Erschrecken, wenn sie unerwartet aufgerufen werden. Oder sie kennen die Tücken der Furcht, wenn sie sich schwer tun, vor einer größeren Gruppe von Menschen zu sprechen. Die Not der Schüler können wir psychologisch verstehen. Aber wir können auch neurobiologische Erkenntnisse der Gehirnforschung zum Verständnis heranziehen. Denn jede seelische Regung ist mit einem körperlichen Geschehen verbunden. Die in der Angstsituation erlebte Gefahr löst im Körper eine Reaktion aus: er sendet Stress-Hormone in den Blutkreislauf. Diese Hormone – Adrenalin – sollen den Körper schlagartig für Höchstleistungen, für einen plötzlichen Angriff oder eine Flucht vorbereiten. Sie erhöhen den Blutdruck und mobilisieren die Fett- und Zuckerkonserven.

„Doch tief im Inneren unseres Gehirns bewirken diese Stress-Hormone noch etwas anderes: Sie beeinflussen die Schaltstellen zwischen den Nervenzellen. Überall dort, wo die einzelnen Nervenfasern miteinander in Kontakt stehen, befinden sich knopfartige Schaltstellen, die Synapsen. Diese Umschaltstellen zwischen den Nerven leiten nervöse Reize von einem Neuron auf ein anderes weiter. Die Synapsen regeln den Informationsfluss im Gehirn. Nur mit ihrer Hilfe ist ein geordnetes Denken und Erkennen möglich. Bei Angst und Stress wird das Hormon Adrenalin in den Blutkreislauf ausgeschüttet. Diese Stress-Hormone mobilisieren nicht nur den Körper zu Angriff und Abwehr. Sie beeinflussen auch die Schaltstellen zwischen den Nervenzellen.“(8)

Steigender Adrenalinspiegel blockiert die Nervenströme im Gehirn – Beschädigtes Gedächtnis

Die Stress-Hormone verhindern, dass die in den Synapsen ankommenden Impulse weitergeleitet werden. Das hat seinen biologischen Sinn in der Selbsterhaltung des Menschen. Jedes „Nachdenken“ hätte in der Urzeit den rettenden Sprung vor dem Feind oder dem gefährlichen Tier verzögert. „Die Natur konnte schließlich nicht ahnen“, schreibt Frederic Vester, „dass unsere moderne Gesellschaft einmal Stress- und Alarmreaktionen ausgerechnet mit dem Lernen und Denken verknüpft, mit einem Vorgang, bei dem solche Vorgänge am allerwenigsten zu suchen haben.

Sobald der Gehalt an Adrenalin im Gehirn ansteigt, werden im Gehirn viele Impulse durch die Synapsen nicht weitergeleitet. Das ist der Moment, wo uns auf Biegen und Brechen etwas nicht einfällt, in der Prüfungsangst oder in einer Panik, oder beim Aufgerufen-Werden im Unterricht. Die gelernten Information kann nicht an ihren Bestimmungsort gelangen und wir haben es mit Denkblockaden, Sinnesstörungen oder Gedächtnislücken zu tun – ganz gleich, wie gut man etwas gelernt hat.“ So kann beim plötzlichen Aufrufen im Unterricht das Denken der Schüler blockiert werden. In einer angstvollen Spannung zum Lehrer kann ein Kind schon rein biologisch schlechter lernen als in einer zugewandten, emotional angenehmen Lernumwelt.

Verschlimmernd kommt hinzu: Beim nächsten Aufrufen verstärkt das vorausgegangene Versagen die neue Angstsituation. Es handelt sich gleichsam um ein vorgeschädigtes Gedächtnis: Mit dem erneuten Aufrufen wird nicht nur die Information aufgerufen, die der Schüler nachweisen soll. Aufgerufen wird auch die in der vorausgegangenen Abfrage-Situation erlebte Angst, die das Denken blockiert. Umgekehrt: Durch eine sozial angenehme, angstfreie Lernsituation werden weniger Stress-Hormone ausgeschüttet. Die Nervenströme werden durch die Synapsen weitergeleitet und ermöglichen das Denken und Lernen. Die Schalterverbindungen des Gehirns funktionieren besonders gut, wenn auch die Freude erinnert wird. Da können die nervlichen Schalterverbindungen des Gehirns gut leiten.

„So muss es sein, wenn man von einem Auto überfahren wird: Wie auf die Straße geschmettert, die Augen getrübt

Alfred Andersch schildert seine Schulangst in der autobiographischen Erzählung „Der Vater eines Mörders“.

„Der Vater eines Mörders“ war Direktor des Wittelsbacher Gymnasiums in München. Er ist der Vater von Heinrich Himmler, der als SS-Reichsführer während der nationalsozialistischen Diktatur das Terrorsystem der Konzentrationslager aufbaute und die Vernichtung der Juden organisierte. Alfred Andersch, „ein unbegabter Gymnasiast“, erzählt, wie es ihn im Jahr 1928 verwirrte, als ihn der Direktor des Humanistischen Gymnasiums während einer Visitation aufrief.

«Nun, Kien, wie sieht es denn mit deinem Griechisch aus?» Er legte die Betonung auf das Wort ‹deinem›. - Ausgeschlossen, dachte Franz. Das konnte es nicht geben. Aber dann gleich: es hat stattgefunden. Es findet statt. Der Rex wird mich in Griechisch prüfen. Herrgottsakrament. Himmelherrgottsakrament. Ein Unglück. Ein Unglück ist geschehen. So muß es sein, wenn man von einem Auto überfahren wird. Unvermutet stößt einen etwas Eisernes an, schmettert einen auf die Straße. «Setz dich wieder hin, ich will lieber einen anderen drannehmen!» Dieser Satz würde nicht ausgesprochen werden, er war bloß eine irre Hoffnung, schnell verflackernd, nachdem Franz aufgestanden war ... Er wußte, daß er auf die Frage, wie sein Griechisch aussähe, nicht zu antworten brauchte, ja nicht einmal antworten durfte, er hätte auch nichts, gar nichts auf sie antworten können, so benommen war er in diesem Augenblick von dem Unerhörten, das sich wie ein Schleier über ihn senkte, wirklich empfand er seine Augen als getrübt, sein Blickfeld als verengt, er nahm kaum wahr, wie die schadenfrohen Gesichter der Umsitzenden sich auf ihn richteten.

Alfred Andersch erlebte das Aufgerufen-Werden als «Unglück»: wie «von einem Auto überfahren» und «auf die Straße geschmettert». Die Situation war alles andere, als zum Nachdenken geeignet: Der Jugendliche war «benommen», ein «Schleier senkte sich über ihn»; seine Augen waren «getrübt», sein «Blickfeld verengt». Nicht alle Aufruf-Situationen verlaufen so dramatisch, aber lernstörend sind sie in jedem Fall, denn die Kinder geraten unter Druck, der das Nachdenken blockieren kann. Deshalb unterlassen es pädagogisch orientierte Lehrerinnen und Lehrer, Schüler unvorhergesehen aufzurufen. Sie entdecken dabei, dass die Bereitschaft der Kinder zur Mitarbeit nicht etwa geringer wird, sondern eher wächst; denn die Lernsituation wird angstfreier, zumal die unsicheren Kinder ermutigt werden sich zu beteiligen. Es wäre hilfreich, wenn sich Schüler, Lehrer und Eltern in gemeinsamen Gesprächen über diese belastende Alltagssituationen verständigen würden.

Wie können Schüler, Lehrer und Eltern das lernstörende Abfragen vermeiden?

Es gibt wenig Lehrer, die durch plötzliches Aufrufen ihre Überlegenheit ausleben und absichtlich die Schüler in eine peinliche Situation versetzen. Aber es gibt viele, die nicht bedenken, was es für das einzelne Kind bedeutet, blamiert zu werden. Und es gibt zu viele Eltern, die es hinnehmen, wenn ihre Kinder solch unnötigen Angstsituationen ausgesetzt werden. Deshalb tragen gemeinsame Gespräche dazu bei, sich zu verständigen und die Kinder vom Angstdruck zu befreien.

  • Schüler sollten ihren Lehrerinnen und Lehrern mitteilen, wie es ihnen in der Abfragesituation ergeht. Ob sie sich geängstigt fühlen, ob sie das plötzliche Aufgerufen-Werden im Denken blockiert, ob es ihnen recht ist, ungefragt aufgerufen zu werden...

  • Eltern, Lehrerinnen und Lehrer interessieren sich dafür, wie die Schüler das Klassenklima im Hinblick auf das Aus- und Abfragen empfinden, was sie anders haben möchten und was sie selbst dazu beitragen können. Sie hören zu, wenn die Jugendlichen das Aufrufen aus ihrer Sicht schildern.

  • Die Stimmung beim unerwarteten Aufgerufen-Werden kann für Kinder und Lehrer ein lohnendes Aufsatzthema sein: Angst in der Schule – Freude in der Schule – Eine Unterrichtssituation, die mir peinlich war – Damals hat mir die Lehrerin geholfen – Da fühlte ich mich ungerecht behandelt – Ein Lehrer, vor dem ich mich fürchte... Das sind Themen, zu denen Schüler etwas zu sagen haben. Sie lernen dabei, das auszudrücken, was sie bewegt, zu schreiben, was sie gern anders hätten, sie werden angeregt, über sich selbst und andere nachzudenken und die persönlichen Gedanken treffend auszudrücken.

  • In Klassengesprächen wird deutlich, wie unterschiedlich Jugendliche auf die gleiche Situation reagieren. Das weckt in den Beteiligten Verständnis für die anderen.

  • Den Lehrer in einem persönlichen Gespräch bitten, nicht aufgerufen zu werden. In unmittelbarer Nähe nehmen beide einander besser wahr. Sie können gemeinsam überlegen, welche angstfreien Wege es gibt, mündliche Noten zu machen, zum Beispiel durch freiwillige Meldung.

  • Schülerinnen und Schüler sollten wissen, dass es lernpsychologisch ungünstig ist, Kinder plötzlich aufzurufen. Nicht nur weil es Angst macht, sondern auch weil weniger gelernt wird, wenn Schüler in eine unsichere Situation versetzt werden.

  • Die Jugendlichen sollten Lehrerinnen und Lehrern, die nicht unvorhergesehen aufrufen, sagen, um wie viel lieber es ihnen ist, wenn sie sich melden können. Es gelingt ihnen dabei leichter, aufzumerken, weil sie keine Angst haben müssen.

  • Das Thema ist für viele Schüler – jedenfalls für die ängstlicheren und sensibleren – so bedeutsam, dass es Eltern, Lehrer und Schüler gemeinsam erörtern sollten – zum Beispiel auf einem Eltern-Lehrer-Schüler-Abend, auf dem es darum geht, miteinander zu überlegen, wie Kinder lieber lernen und mehr leisten können.

Aber wenn die Schulordnung „mündliche Leistungsnachweise“ verlangt? –„Abfragen“ ist nicht vorgeschrieben

Viele Schüler und Eltern, selbst manche Lehrer meinen, es sei durch die Schulordnung vorgeschrieben, Kinder in der verbreiteten Weise abzufragen. Vorgeschrieben sind jedoch nur „mündliche Leistungsnachweise“. Wie Lehrer diese fordern, liegt in ihrer pädagogischen Verantwortung: Sie können Unterrichtsbeiträge vorbereiten lassen, Kurzreferate ermöglichen, spezielle Kenntnisse bewerten, freiwillige Leistungen einbeziehen, Berichte über häusliche Arbeiten entgegen nehmen – zum Beispiel aus Quellen wie dem Internet, eigene Erfahrungsberichte erstellen lassen. Es gibt Lehrerinnen, die vereinbaren mit den Schülern eine bestimmte Reihenfolge, in der die einzelnen Kinder aufgefordert werden, ihr Wissen mündlich zu zeigen. Andere bauen ausschließlich auf die freiwillige Wortmeldung der Jugendlichen.

„Ich vergeude nicht“, sagt ein Gymnasiallehrer, „meine kostbare Unterrichtszeit mit der Ausfragerei. Da lernt die Klasse nichts dabei, wenn ein Schüler nichts weiß; ängstliche Kinder lernen lediglich, sich vor dieser Situation zu ängstigen. Ich habe gute Erfahrungen damit gemacht, die Schüler anzuregen, sich möglichst oft zu melden. Sie wissen, dass kein Kind blamiert wird, sondern dass es ein Versagen wieder wettmachen kann.“ – Eine Lehrerin sagt: „Von dem Furcht erregenden Abfragen, Ausfragen, Vorrechnen an der Tafel, plötzlichem Drannehmen halte ich überhaupt nichts; es verdirbt mir das Klassenklima. Ich möchte schließlich Lehrerin sein, und kein Angstmacherin.“ – Eine Kollegin: „Ich ermuntere meine Schüler im Englischunterricht, sich viel zu melden, falsche Antworten zählen nicht, sondern werden korrigiert. Mit den Schüchternen spreche ich persönlich, sie sollten mir ein Zeichen geben, wenn sie meinen, sie trauen sich.“

Diese Lehrerinnen und Lehrer hielten es als für die beste pädagogische Lösung, Zensuren abzuschaffen. Durch die PISA-Studie wurde deutlich: Zu den Ländern, in denen die Schüler gute Leistungen zeigten, gehören solche, in denen es bis zum 10. Schuljahr keine Ziffernnoten gibt. Das ist lernpsychologisch leicht begründbar: Die Schüler werden durch ausführliche Beurteilungen umfassend wahrgenommen, sie erfahren genau ihre Stärken und werden aufmerksam angeleitet, Schwächen zu überwinden; es wird der individuelle Lernfortschritt gemessen, die lernstörende Noten-Angst entfällt – das steigert die Leistung.

Nicht unerwartet aufrufen: Gebot des pädagogischen Takts

Die Abfrage-Praxis nicht ängstigend, sondern ermutigend zu gestalten, ist auch eine Frage des pädagogischen Taktes: Der Lehrer verhält sich rücksichtsvoll den Schülern gegenüber, vermeidet, sie durch Worte oder Handlungen zu verletzen, bloßzustellen oder ihnen zu nahe zu treten. Bei taktvollen Lehrern können Kinder sicher sein, nie ausgelacht oder beschämt zu werden. Zensuren und Fehler werden nicht öffentlich gemacht, Schülerarbeiten behutsam korrigiert und nicht entwertet. Lehrer mit menschlichem Takt vermeiden es, Schwächen von Jugendlichen aufzuzeigen, Kinder durch Ironie oder Spott zu beleidigen. Auch Fehlerfreundlichkeit im Unterricht ist eine Frage des pädagogischen Taktes, aber auch unterrichtliches Prinzip: Aus Fehlern lernen, statt die Lernenden immerzu be- oder verurteilen. In achtsamer Beziehung zu sein, hilft nicht nur den Kindern, sondern verbessert auch die Berufszufriedenheit von Lehrerinnen und Lehrern. Pädagogischer Takt setzt die Fähigkeit voraus, sich in Kinder und Jugendliche einzufühlen. Lehrer zeigen sich nicht nur zugänglich für das, was Schüler an sie heranbringen, sondern bemerken von sich aus, wenn Zuspruch oder Hilfe nötig ist. Sie nehmen zum Beispiel nicht nur die missglückte Leistung wahr, sondern auch die Stimmung, die beim Schüler damit einher geht. Sie versetzen sich in die Lage des Kindes oder Jugendlichen und versuchen schwierige Situationen auch von ihm aus zu sehen. In Konfliktsituationen gefährden sie niemals auf Dauer die Beziehung zum Schüler.

Kinder vor Blamage schützen

Es ist die Angst, blamiert zu werden, die das plötzliche Aufrufen so spannungsreich macht. Die Furcht, sich öffentlich bloßstellen zu müssen, ist kein „Einzelfall“. Eine Studie im Auftrag des Kultusministeriums von Baden Württemberg ergab: mehr als die Hälfte der Schüler - 58 Prozent - kennen Lehrer, die ihre Schüler vor der Klasse blamieren. Fast jeder vierte – 23,2 Prozent - wurde von einem seiner Lehrer schon einmal tief verletzt.

Der neunjährige Martin nässte immer dann ein, wenn er in der Mathematikstunde an der Tafel vorrechnen sollte. Weinend erzählt er seiner Mutter, wie er vor der Klasse stünde und fürchte, sich zu blamieren. Er könne dann nicht mehr denken. Die Mutter fürchtete sich davor, mit der Lehrerin zu reden, aber sie ging dann doch in die Schulsprechstunde, und zwar mit Martin zusammen. Sie schilderte der Lehrerin, was Martin und sie bedrücke. Die freundliche Lehrerin war überrascht darüber, dass es Martin ängstige, an der Tafel vorzurechnen. Es tat ihr leid, ihn in eine peinliche Situation zu versetzen. Deshalb vereinbarte sie mit dem Jungen, er müsse nicht mehr an die Tafel gehen. Nach diesem Gespräch kam Martin nicht mehr mit nassen Hosen nach Hause. Es war die heilende Kraft der zugewandten Beziehung, die sein Symptom verschwinden ließ und seinen Mut stärkte.

Ermutigen, statt ängstigen, dazu schreibt Albert Einstein: „Am schlimmsten ist, wenn die Schule mit Furcht, Zwang und künstlicher Autorität arbeitet. Solche Behandlung vernichtet das gesunde Lebensgefühl, die Aufrichtigkeit und das Selbstvertrauen des Schülers. Sie erzeugt den unterwürfigen Untertan. Es ist einfach, die Schule von diesem Schlimmsten aller Übel frei zu halten: Man gibt dem Lehrer möglichst wenig Zwangsmittel in die Hand. Dann sind die einzige Quelle des Respekts der Schüler gegenüber dem Lehrer dessen menschliche und intellektuell Qualitäten.“

Benützte Literatur:

1) Alfred Andersch: Der Vater eines Mörders. Erzählung (1980, Diogenes)

2) Deutsches PISA-Konsortium: PISA 2000

3) Albert Einstein: Zeiten des Staunens. Hrsg.: Harald Schützeichel (1993 Herder Spektrum)

4) Kurt Singer: Die Würde des Schülers ist antastbar. Vom Alltag in unseren Schulen und wie wir ihn verändern können (1998, rororo Taschenbuch)

5) Kurt Singer: Wenn Schule krank macht. Wie macht sie gesund und lernbereit?(2000, Beltz Taschenbuch)

6) Kurt Singer: Zivilcourage wagen. Wie man lernt, sich einzumischen (2003, Ernst Reinhardt Verlag)

7) Süddeutsche Zeitung, 3.September 2001: Das Streiflicht

8) Frederic Vester: Denken, Lernen, Vergessen. Was geht in unserem Kopf vor, wie lernt das Gehirn, und wann lässt es uns im Stich? (1975, DVA)

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