Prof. Dr. Kurt Singer
Klassenarbeiten ohne Schrecken?
Angst vor Prüfungen muss nicht sein
Was Schüler darüber wissen sollten
Eine Quelle der Schulangst und des Unbehagens am Unterricht sind Prüfungen.
In Schulen, in denen viel geprüft wird, kommen die Schüler wenig
zu interessiertem Lernen, bei dem sie auch dann noch etwas wissen wollen,
wenn die Prüfung vorbei ist. Prüfungen, die Kinder einschüchtern,
sind lernpsychologisch gesehen schlechte Prüfungen, weil eingeschüchterte
Schüler nicht gut lernen können. Prüfungen sollten zeigen,
was die Schüler können und wissen, ob sie nachdenken und Probleme
lösen können. Diese Fähigkeiten können sie besser
zeigen, wenn sie keine Angst haben müssen.
Machen Klassenarbeiten und unvorbereitete Probeaufgaben „Höllenangst“?
Viele Schüler fürchten sich vor Leistungskontrollen. In einer
Umfrage über Angst wurden 2080 Kinder im Alter von acht bis sechzehn
Jahren befragt. Es traten vielerlei Ängste zu Tage: Furcht vor Umweltkatastrophen,
Krieg, Arbeitslosigkeit, Scheidung der Eltern, unheilbare Krankheit...
Sehr häufig hatten die Ängste jedoch mit schlechten Noten und
Schule zu tun. „Mathe macht mir Höllenangst“, sagte eine
vierzehnjährige Gymnastin. Sie fürchtete sich, wie viele ihres
Alters, vor mangelhaften Zensuren. Ein zwölfjähriger Realschüler:
„Ich habe Angst vor unserem Klassenlehrer. Er kann einem ganz gemein
Angst machen. Er droht mit schlechten Noten und Sitzen bleiben. Ich bekomme
richtig Herzklopfen, wenn er die Klasse betritt. Ein Sechzehnjähriger
meinte gar: Vor Zeugnissen, Noten, Sitzen bleiben und Klassenarbeiten
habe ich Angst. Krieg, Krebs, Ozonloch, Wirbelstürme sind nichts
dagegen.“ So ohnmächtig ausgeliefert fühlen sich manche
Kinder und Jugendliche, dass sie Schulangst mit schicksalhaften Katastrophen
gleich setzen.
Schulkinder durch ermutigende Schulbedingungen von der Angst zu befreien,
ist nicht nur human, sondern fördert auch das Lernens. Tests,
richtig eingeführt, müssten nicht ängstigen. Die Schülerinnen
und Schüler könnten durch Leistungskontrollen eigenständig
werden, wenn die Prüfungen durchsichtig und von unkontrollierter
Lehrermacht befreit würden. Es ist lernwirksamer, die Zeit zum Unterrichten
zu verwenden, als für das Prüfen durch Aus- und Abfragen, durch
Kurzprüfungen und Tests.
Die Prüfungsvorbereitung soll Mut machen:
Lehrer und Schüler können sie gemeinsam gestalten
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Die Schülerinnen und Schüler erfahren genau, welche
Lerninhalte geprüft werden. Diese müssen eingegrenzt und
überschaubar sein. Kinder können nur dann zielbewußt
lernen, wenn die Lernziele eindeutig und für sie erkennbar sind.
Die ängstigende Schülerfrage „Was wird drankommen?“
erübrigt sich; denn der Lehrer gibt einen überschaubaren
Rahmen für die Prüfung bekannt und bespricht ihn mit den
Schülern.
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Die Kinder und Jugendlichen wirken mit, die Lern- und Prüfungsinhalte
festzulegen, dadurch wird es ihre Prüfung, nicht nur
die des Lehrers. Sie überlegen Fragen und Problemstellungen zu
dem, was sie gelernt haben. Diese Mitwirkung ist bereits ein wichtiger
Teil der Vorbereitung und des Lernens: Die Schüler setzen sich
denkend mit den Sachthemen auseinander, indem sie selbst Problemfragen
formulieren.
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Sie bekommen ausreichend Zeit, sich vorzubereiten, planvoll
zu lernen und Fragen einzubringen. Dabei helfen ihnen Lehrerinnen
und Lehrer, das Lernen auf bestimmte Zeitabschnitte zu verteilen,
um das «Von-heute-auf-morgen-Lernen» in ein sinnvolles,
nachhaltiges Lernen umzuwandeln.
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Sie üben sich in Vorversuchen in die Art der Prüfung
ein, so dass sie wissen, wie die Prüfung abläuft. Das kann
durch Hausaufgaben geschehen, die der Prüfung entsprechen, oder
durch Schulübungen.
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Lehrerinnen und Lehrer vermitteln Methoden geistigen Arbeitens,
mit denen sich die Schüler vorbereiten können. Sie lehren,
wie man lernt, wie man «inwendig» lernt, wie man sich
Vokabeln nachhaltig einprägt, wie man den eigenen Lerntyp herausfindet,
wie man Informationen erarbeitet.
Eine entspannte Prüfungssituation schaffen
-
Lehrerinnen und Lehrer, die Angst nehmen wollen, schaffen
während der Prüfung eine entspannte Situation. Die sollte
sich möglichst wenig von der gewohnten Arbeitssituation unterscheidet.
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In bestimmten Fächern, vor allem Sachfächern, sollten
in der Prüfung auch offene Aufgaben gestellt werden.
Bei denen können die Schüler zeigen, was sie gelernt haben.
Da gehen auch freiwillige Beiträge und individuelle Interessen
in die Prüfung ein.
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Die Schüler dürfen jene Hilfsmittel verwenden,
die sie auch in den natürlichen Lernsituationen verwenden würden
– je nach Fach: Notizen, die sich die Schüler zusammen
gestellt haben, die Niederschriften in ihren Arbeitsmappen, das Wörterbuch,
wenn sie nachsehen möchten, wie man ein Wort schreibt, den Atlas.
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Die Schüler bekommen ausreichend Zeit, die Aufgaben
zu bearbeiten. Auch die Langsameren sollten nicht unter Druck geraten.
Nachüberlegungen zur Probearbeit – Aus Fehlern lernen
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Die Prüfungsarbeiten sollten möglichst rasch zurückgegeben
werden, damit die Kinder ihre Arbeit sofort bestätigt bekommen
und sich unmittelbar damit auseinandersetzen können. Diese Rückgabe
erfolgt so taktvoll, dass sich kein Kind bloßgestellt fühlt.
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Die Lehrerin informiert durch ihre Korrektur, zeigt auf,
was gut gelungen ist, wo Mängel sind und wie diese ausgeglichen
werden können. Kinder, die Misserfolg hatten, brauchen Zuspruch.
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Schüler und Lehrer überlegen gemeinsam, wie zufrieden
sie mit dem Ergebnis der Leistungskontrolle sind, welche Folgerungen
sie daraus ziehen und wie sie weiterlernen können. Sie erörtern
auch, ob Prüfungsmethode und Prüfungsinhalte angemessen
waren.
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Kinder und Jugendliche, deren Arbeit missglückt ist, dürfen
die Prüfung wiederholen, um ihr Ergebnis zu verbessern.
Den Schülern die Chance einer solchen Wiederholung zu verweigern,
ist lernpsychologisch widersinnig.
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Wo immer möglich, sollten die Schülerinnen und Schüler
Wahlfreiheit zwischen verschiedenen Prüfungsmethoden
haben, damit sie ihren Leistungsbeweis emotional und ihrer Begabung
entsprechend, bestmöglich erbringen können.
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In offenen Gesprächen tauschen Schüler und Lehrer
ihre persönlichen Prüfungserlebnisse aus; sie durchdenken
das gesamte «Prüfungsfeld» und sehen, wie es sich
auf die einzelnen und auf die Arbeit auswirkt.
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In diesen Gesprächen geht es auch um den Umgang mit der
Angst: weshalb wir die Angst «brauchen», wie wir
die Angst annehmen, fruchtbar machen und mildern können.
Ohne „Lampenfieber“ geht es nicht – Die gesunde
Angst in der Prüfungssituation
Solche Prüfungsvorbereitung und Nachbereitung erhält nicht
nur seelisch gesund, sondern befähigte die Schülerinnen und
Schüler zu erfolgreichem Lernen. In einem Experiment zeigte sich:
Bei Prüfungen in einem angstfreien Klima wussten die Schüler
auf 100 Fragen 90 mal die richtige Antwort, in angstmachender Stimmung
sank die Anzahl der richtigen Antworten auf 50 Prozent. Aber auch bei
lernpsychologisch vernünftiger Vorbereitung bleibt die «gesunde»
Prüfungsangst. Diese Realangst ist unvermeidbar, weil die bevorstehende
Situation ein Risiko enthält. Sie versetzt Körper und Geist
in gespannte Erwartung und erhöhte Aufmerksamkeit. Das Angstgefühl
macht körperlich und geistig handlungsbereit. Es erregt das vegetative
Nervensystem, erhöht den Blutdruck, beschleunigt die Herztätigkeit,
macht aktiv. Dieser Alarmzustand ist eine Fähigkeit, die den Schüler
«voll da» sein lässt. Er regt das Denken an und macht
aufmerksam. Die Angst wird zur Kraft, etwa in jener Form, die man Lampenfieber
nennt: die starke Erregung unmittelbar vor einer Situation, in der man
sich zu bewähren hat.
„Bei diesem Mathelehrer hatte ich nie Angst“
„Er rechnete mit uns alle Aufgaben, die in der Schulaufgaben dran
kamen, in Ruhe durch. Schüler, die sich schwer taten, durften fragen
und sich von anderen nachhelfen lassen. Der Lehrer sagte uns: „Das
ist das Mindeste, was ihr können sollt. Wenn ihre diese
Aufgaben fertig bringt, könnt ihr schon kein Ungenügend mehr
bekommen.” Er gab uns dann eine Woche vor der Prüfung eine 'Übungs-Schulaufgabe'
mit nach Hause, von der er sagte: Etwa so läuft auch die Probe ab:
’Am Anfang stelle ich eine leichte Aufgabe, die könnt ihr alle
lösen, wenn ihr euch gut vorbereiten; die folgenden Aufgaben werden
dann immer schwerer’. Ich war nicht besonders gut in Mathe, aber
ich bereitete mich immer sorgfältig vor in den Aufgaben, die ich
gut verstanden hatte. Tatsächlich legte uns der Lehrer nie herein.
Er brachte immer nur Aufgaben, die wir geübt hatten und stellte immer
solche, die auch die schwächeren Schülerinnen und Schüler
lösen konnten. Ich fand das sehr fair; und in dieser Zeit mochte
ich sogar Mathematik gern.“
Fragen zu: „Prüfungen ohne Angst“ – und
Mut zur Mitsprache?
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Welche der angeführten Ängste treffen auf Dich zu?
Und welche anderen Ängste kennst Du aus dem Unterricht?
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Wie geht es Dir mit der Angst vor Prüfungen? Kannst du
offen mit Mitschülerinnen darüber reden?
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Könntest du als Klassensprecherin anregen, mit dem Lehrer
ein Gespräch zu führen, wie Ihr Euch die Prüfung wünscht,
damit Ihr weniger Angst haben müsst?
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Welche der in diesem Kapitel aufgeführten Kennzeichen einer
psychologisch hilfreich durchgeführten Prüfung trifft auf
die Prüfung in Deiner Klasse zu?
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Wenn der Lehrer sagt: „Die Probe ist schlecht ausgefallen“,
könnt Ihr fragen: Worin liegen die Gründe dafür? Nur
in uns Schülern? Oder auch am Unterricht? Oder auch am Lehrer,
der dafür sorgen soll, dass die Schüler Erfolg haben?
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Wenn die Lehrerin sagt: „Die Ex ist zu gut ausgefallen,
ich muss nächstens schwerere Aufgaben stellen“, sollten
Schüler fragen: „Weshalb freuen Sie sich nicht, wenn wir
gut gearbeitet haben?“
Zahlen, die Schüler anregen sollen, mit ihren Lehrern über
Angstbewältigung zu sprechen:
Oft verschweigen Jugendliche ihre Angst, oder sie meinen, nur ihnen gehe
es so, dass sie sich fürchten. Aber nach zahlreichen Untersuchungen
sind es viele, die sich in bestimmten Schulsituationen ängstigen;
darüber sollten Kinder und Jugendliche mit ihren Lehrern und Eltern
sprechen, weil Angst das Lernen stört:
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50 % aller Schülerinnen und Schüler haben Angst vor der
Schule
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63 % haben Angst, bei Prüfungen schlechte Noten zu bekommen
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58 % geben an, sie vergäßen bei Prüfungen, was sie
vorher gelernt haben
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54 % der Gymnasiasten haben Angst, etwas Falsches zu sagen, wenn
sie aufgerufen werden
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30 % befragter Kinder des dritten und vierten Schuljahres können
mehrmals in der Woche nicht gut schlafen
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60 % berichten, es gäbe Lehrer, die sie vor der Klasse blamierten
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67 % haben bei Prüfungen ein komisches Gefühl im Magen
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18 % der Eltern geben an, die Schüler bräuchten gelegentlich
Beruhigungsmittel
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50 % äußern Angst, nach vorne an die Tafel zu kommen
und denken: Hoffentlich nimmt er mich nicht dran.
Aber bereits ein einzelnes Kind, das durch Schulangst im Lernen gestört
wird, ist der Überlegung wert, die Angst zu mildern. Das kann auch
im Ethikunterricht Thema sein. Dann kann aus dem Ethikunterricht die „angewandte
Ethik“ werden: Hilfsbereitschaft.
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