Kurt Singer: Vortrag in Würzburg vor Lehrern des König-Friedrich-Gymnasiums
am Mittwoch, 16. November 2005, ungekürzte Fassung
Lehrer-Schüler-Konflikte miteinander regeln
Unterrichtsstörungen und Erziehungsschwierigkeiten
im Schul-Alltag
Ich spreche zu Ihnen über die Frage: Wie können wir Konflikte
im Schulalltag miteinander regeln? Ich werde Sie in meinem Vortrag
nicht belehren, sondern wünschte, ich könnte Sie berühren
an Stellen, an denen das Konflikt-Thema für Sie persönlich bedeutsam
ist. Ich möchte Sie zu einer pädagogischen Selbstbesinnung anregen.
Und zwar nicht unter der Frage: Was tue ich wenn ...?, sondern unter der
persönlichen Frage: Wer bin ich? Wie möchte ich als Lehrerin
oder Lehrer sein? Ich möchte Sie nicht fortbilden, sondern würde
Sie gern zur Selbstwahrnehmung ermuntern, wenn Sie das wollen. Die Beispiele,
die ich bringe, sind nicht zum Nachmachen, sondern zum Nachdenken.
Sie stammen aus meiner Arbeit mit Lehrergruppen, aus Beratungen und aus
meiner eigenen Lehrerzeit. Ich beginne mit einem Beispiel.
Hilft es gegen die Unaufmerksamkeit des Schülers, wenn die Lehrerin
aufmerksam ist? – Hören, verstehen, besser lernen
Eine Lehrerin berichtete folgende Erfahrung: „Peter störte
seit Tagen immer wieder den Unterricht; er war schwatzhaft, unruhig, belästigte
die Mitschüler. Ich wurde an diesem Vormittag ungeduldig und sagte
zu ihm in barschem Ton: ,Mir reicht's jetzt, zur Strafe bleibst du heute
nach dem Unterricht da und arbeitest nach, was du durch deine Unaufmerksamkeit
versäumt hast.’ Er tat das widerspruchslos, ich arbeitete an
meinem Schreibtisch. Gelegentlich fragte er mich wegen einer Aufgabe,
dabei kamen wir ins Gespräch. Er erzählte von seinem Hund, einem
Labrador, den er gern mag und er sagte mir, dass seine Mutter wegen einer
Operation im Krankenhaus liege. Ich hörte zu, es interessierte mich.
Am Ende des Nachsitzens verabschiedeten wir uns. Mir verschlug es die
Sprache, als Peter zu mir sagte: ,Da musste ich mich jetzt schlecht benehmen,
um in Ruhe mit Ihnen reden zu können.’“
Ja, dachte sie, wann habe ich mit Peter zuletzt ein persönliches
Wort gewechselt? Kein mahnendes, forderndes, strafendes, anspornendes,
sondern einfach so einen verbindenden Satz nebenbei? Und wie geht das
bei 27 Kindern? Aber sind alle 27 Kinder gleich bedürftig? Wie finde
ich jene heraus, die das Zuhören so dringend brauchen, wie mir das
Peter mit seiner Bemerkung zeigte: ,Da musste ich mich schlecht benehmen,
um mit Ihnen reden zu können.’ Wie viel Unaufmerksame habe
ich in meiner Klasse, die mehr Aufmerksamkeit bräuchten?
Die Lehrerin fügte etwas über die Nachwirkungen des Ereignisses
hinzu: „Peter war in den folgenden Tagen wie verwandelt: aufmerksam
und willig, im Unterricht und mir gegenüber sehr bemüht, ohne
zu stören.“ Was verwandelte ihn? Kann das gute Wort Wunder
wirken? Die Lehrerin hat sich für ihn interessiert, für
ihn als Person, nicht nur als Schüler. Die zugewandte Beziehung
wirkte sich beruhigend auf Peter aus – und auf Frau O. Die der Lehrerin
unbewusst abgerungene Aufmerksamkeit machte den Jungen aufmerksamer und
verstärkte den Lernwillen. Vielleicht war es das, was Bertolt Brecht
in zwei Zeilen über das Lehren ausdrückte, ich mache es zum
Motto meines Vortrags:
Lehren
Der nicht versteht,
muss erst das Gefühl haben, dass er verstanden wird.
Der hören soll,
muss erst das Gefühl haben, dass er gehört wird.
Ich setze vor des Dichters Wort den Begriff „Schüler“,
dann heißt es: Ein Schüler, der nicht versteht, muss erst das
Gefühl haben, dass er verstanden wird. Ein Schüler, der hören
soll, muss erst das Gefühl haben, dass er gehört wird.
Identitäts-Probleme angesichts einer unaufmerksamen Klasse –
„Ich bin nicht so, wie ich als Lehrerin sein möchte“
Im folgenden Beispiel ging es um eine ganze Schulklasse, die nicht „hören“
wollte. Eine Lehrer-Gesprächs-Gruppe von acht Teilnehmern traf sich
mit mir vierzehntägig, jeweils zwei Stunden. Wir bearbeiteten Schwierigkeiten
aus dem Schul-Alltag. An diesem Mittwochabend brachte eine Lehrerin ihr
Disziplin-Problem zur Sprache: „Ich bin nicht so, wie ich als Lehrerin
sein möchte.“ Das ist eine existenziell dramatische Aussage;
es geht um ihre Identität, ihr Selbstbild. Sie fährt fort: „Ich
schreie die Schüler an, wo ich es doch grässlich finde, zu schreien.
Ich rede viel zu viel, dabei nehme ich mir immer wieder vor, die Schüler
nicht tot zu reden. Ich erteile Verweise, obgleich ich darin wenig Sinn
sehe. Aber ich werde mit dieser Klasse einfach nicht fertig. Die Schüler
sind mir überlegen und ich kämpfe ständig darum, meine
Überlegenheit wieder zu gewinnen. Manche Schüler reden in einem
fort, hören nicht zu, die Stimmung ist gereizt. Die nehmen mich nicht
ernst, und meine Ohnmacht macht mir Angst.“
Ich fragte Frau K.: „Wie sieht das ganz praktisch in Ihrer Stunde
aus?“ – „Heute Vormittag habe ich in der Erdkundestunde
die ganze Zeit gequasselt, die Schüler wurden immer unaufmerksamer,
ich wurde immer lauter. Nach solchen Stunden gehe ich bedrückt nach
Hause, körperlich verspannt, das macht mich noch ganz krank. Aber
ich weiß nicht, was ich machen soll.“ – Ich frage: „Was
möchten Sie denn machen?“ – Sie darauf: „Ich möchte
von meinem Gequatsche weg kommen, vielleicht wird es dann ruhiger.“
– Ich sage: „Wenn Sie weniger reden wollen, weshalb reden
Sie dann nicht weniger?“ – Sie sagt: „Ich hab’
doch keine Zeit, mich so ausführlich vorzubereiten; schließlich
sind da auch noch die anderen Stunden ...“, so geht die Klage weiter.
Diese Lehrerin hat sich in der bedrängenden Situation selbst
aufgegeben. Sie schimpft auf sich, auf die disziplinlosen Schüler,
den Lehrplan, das Schulsystem. Als Aufgabe de Gruppe sah ich, ihr aus
ihrer Resignation heraus zu helfen.
Es galt zunächst, ihre Resignationspunkte herauszufinden;
denn hinter jeder Resignation im Lehrer-Alltag steckt auch verloren gegangene
Lebendigkeit; diese Lebendigkeit möchte ich wieder entdecken. Die
Lehrerin nannte das Zeitproblem, die Mühe mit den eigenen Kindern
zu Hause. Sie habe zwar Vorstellungen von schönen Projekten, aber
die könne sie ja doch nie verwirklichen. Die Gruppenteilnehmer überlegten,
fragten nach, brachten Einfälle: nicht als Ratschläge, sondern
für gemeinsames Nachdenken. Eine Kollegin fragt: „Wie fangen
die Störungen in der Klasse an?“ Eine andere: „Könntest
du vielleicht anstatt des vielen Redens die Schüler selber etwas
aus dem Erdkundebuch erarbeiten lassen?“ Wieder eine ermunterte
Sie: „Und wenn du das, was du uns hier erzählst, über
dein Gequatsche und so, deinen Schülern mitteiltest? Die
müssten doch hören, was dich so nervt, was du uns hier erzählst
– statt dass du immer nur auf sie einschimpfst?“ Wir sagten
Frau K. nicht, was sie tun sollte, sondern überlegten einfach,
was uns jetzt in dem geschützten Raum der Gruppe einfällt
– Frau K. wollte jedenfalls den Gedanken festhalten, ihre Unzufriedenheit
ihrer Klasse mitzuteilen, statt ständig zu mahnen. Ich ermutigte
sie, sich begreifen zu lassen, damit die Schüler eine Chance
haben, sich in sie einzufühlen und Rücksicht auf sie
zu nehmen.
Solche Gespräche in der Lehrergruppe wirken bereits an sich
hilfreich: Die Lehrerin fühlte sich nicht allein gelassen, sie erfuhr,
dass es anderen ähnlich ergeht, es half ihr, verstanden zu werden
und nicht verurteilt oder zensiert.
Die Resignation produktiv machen: „Ich möchte heute weniger
reden!“ – Die Schüler aktiv sein lassen
In der nächsten Gruppensitzung berichtete Frau K., sie habe nach
unserem Gespräch versucht, etwas zu ändern. Sie begann die nächste
Erdkundestunde so: „Ich möchte Euch etwas sagen. Ich bin unzufrieden
mit den Stunden, vor allem damit, dass ich so viel rede und ihr nicht
aufmerkt.“ Sie erläuterte den Schülern ihr Unbehagen,
ohne die Klasse zu beschuldigen und kündigt an: „Ich brauche
eure Hilfe, um den Unterricht erfreulicher zu machen und so, dass Ihr
etwas lernt. Das möchte ich mit Euch bereden; Ihr könnt für
die nächste Stunde überlegen, wie es Euch in den Stunden
geht. Heute aber möchte ich weniger sprechen.“ Die Schüler
überraschte diese Vorrede und die Lehrerin begann: „Ich kündigte
Euch ,Großbritannien’ als neues Thema an: Was wisst Ihr bereits
darüber – aus Büchern, Fernsehen, Zeitung, Internet? Bitte
notiert Stichwörter von dem, was Euch einfällt; nach fünf
Minuten sammeln wir Euer Wissen.“
„Ich war so misstrauisch“, sagte die Lehrerin, „ob
die überhaupt etwas tun. Aber tatsächlich: Die Schüler
schrieben bereitwillig Notizen auf und brachten nach dieser Stillarbeit
viele Einfälle: von der Welt bestem Fußballer, der Königin,
einem Aufenthalt in London, Großbritanniens Haltung im Irak-Krieg.
Ich zeigte mich erfreut über die Ergebnisse und fuhr fort: ,Ich sagte
Euch, ich möchte nicht mehr so viel reden. Nehmt jetzt den Atlas
und das Erdkundebuch zur Hand und versucht in den nächsten fünfzehn
Minuten mit Hilfe des Textes, der Fotos und der Landkarte Neues über
Großbritannien zu erfahren. Ihr könnt allein oder mit dem Nachbarn
zusammen arbeiten.
Frau K. merkte, wie sie im Wortunterricht verhaftet war. Es hätte
sie nicht überraschen müssen, dass die Jugendlichen arbeiteten:
sie konnten selbst etwas tun. Der veränderte Unterricht
hatte Folgen. Schüler und Lehrerin erkannten, dass sie üben
mussten, wie man sich aus dem Atlas informiert, wie
man im Buch sinn-entnehmend liest, wie man Wesentliches markiert,
in Stichwörtern fest hält, wie man ein Bild betrachtet und daraus
Informationen entnimmt, wie man Quellen für erdkundliches Wissen
findet: Sie mussten lernen, wie man Erdkunde lernt.
Gemeinsam den Unterricht verändern – Aus der Mechanik des
Gewohnten heraustreten – Mehrfach-Information
Frau K. regte in Kurzgesprächen die Schülerinnen und Schüler
an, Kritik und Wünsche zu äußern, Ideen zu sammeln, Vorschläge
zu machen. Die Schüler erkannten: Wir sind mitverantwortlich.
Sie konnten nicht mehr der Lehrerin die Probleme zuschieben.
Die Lehrerin fragte sich anfangs: Wie komme ich aus der Unterlegenheit
wieder in die Überlegenheit? Das führte zum Machtkampf,
der sie anstrengte und den sie zu verlieren drohte. Der andere Weg war,
Verständigung zu suchen. Dazu gehörte, dass die Lehrerin
sich selbst ernst nahm, sich begreifen ließ und
die Vorschläge der Schüler aufgriff. Ohne dass ihr das bewusst
war, verwirklichte Frau K. in ihrem neuen Denken eine didaktische Regel,
welche die gestörte Arbeitsdisziplin verbesserte. Sie begab
sich nämlich mit ihrem Wunsch, den Rede-Unterricht zu beenden auf
den Weg zum lernpsychologischen Prinzip der Mehrfach-Information. Das
besagt: mit möglichst vielen Sinnen und unterschiedlichen geistigen
Tätigkeiten zu lernen. Es erleichtert den Schülern, neues Wissen
sicherer zu verknüpfen, wenn sie nicht nur begrifflich lernen,
sondern mehrere Sinnesorgane und Lerntätigkeiten einbeziehen: etwas
anfassen, beobachten, nachschlagen, hören, sehen, mit dem Partner
überlegen, lesen, vertieft allein arbeiten, skizzieren, schreiben,
erklären, argumentieren, fragen, erfinden. Die Lehrerin ermöglichte
es, die Sachverhalte über mehrere Eingangskanäle aufzunehmen.
Dadurch wird das neue Wissen und Können be-griffen und nachhaltig
eingeprägt.
Diese Arbeitsweise mit der Mehrfach-Information fördert zugleich
die gesunde Aggression: Zupacken, aktiv sein, sich auseinander
setzen, mit dem Stoff „ringen“, eigene Kräfte entwickeln.
Und je mehr gesunde Aggression die Schüler leben können,
umso weniger kann sich destruktive Aggression im Unterricht entwickeln.
Ausgegangen bin ich von Frau K.s Lehrerinnen-Schüler-Konflikt,
der so bearbeitet wurde:
Frau K. vertraute sich mit ihren Schwierigkeiten einer Lehrergruppe
an.
Ihr Problem war: „Ich bin nicht die Lehrerin, die ich sein möchte“,
sie haderte mit ihrer Lehrerinnen-Identität.
Die Gruppe half ihr, die Resignation anzusehen und aus der Mechanik
des Gewohnten heraus zu treten.
Die Lehrerin wagte einen Neuanfang.
Sie bezog die Schülerinnen und Schüler in den Veränderungsprozess
ein, ließ sie mitarbeiten und mitbestimmen.
Sie gestand sich ein: Ich bin von den Schülern abhängig,
nicht nur die von mir, also muss ich sie für mein Vorhaben gewinnen.
Sie nahm die Fäden nicht mehr allein in die Hand, sondern gab Verantwortung
an die Schüler ab.
Die Jugendlichen nahmen das Angebot an und gingen mit ihr den Weg vom
Rede- und Zuhörunterricht zum Arbeitsunterricht.
Der Lehrerin half in diesem Prozess vielleicht Erich Frieds „Zusätzliche
Bedingung“:
Zusätzliche Bedingung
Wichtig
ist nicht nur
dass ein Mensch
das Richtige
denkt
sondern auch
dass der
der das Richtige
denkt
ein Mensch ist
Partnergespräch: Persönliche Überlegungen
Ich wünschte, ich könnte Sie anregen, durch Selbstbesinnung
Ihren Weg zu klären, ihn vielleicht zu überdenken,
da und dort neu zu bestimmen. Was sind Ihre persönlichen
Berührungspunkte zum Thema „Lehrer-Schüler-Konflikte miteinander
regeln“?
-
Tauschen Sie sich mit Kolleginnen und Kollegen darüber aus,
was Sie an der täglichen Schularbeit bewegt? Erzählen Sie
weiter, was Ihnen in Unterrichtsstunden Freude macht, was Sie neu
erfunden haben, welche Schwierigkeiten sie überwinden möchten?
-
Wird im Kollegium nur darüber geklagt, wie schwierig die Schüler,
die Klassen, die Vorschriften, die Umstände, die Vorgesetzten
sind? Oder gehen Sie auch wieder weg von der Klagemauer, um zu überlegen,
wie Sie sich unterstützen können?
-
Wie sehen Sie in Ihrem Unterricht den Zusammenhang zwischen Unterrichtsmethode
und Unterrichtsdisziplin?
-
Könnten Sie sich vorstellen, um gute Disziplin zu fördern,
Ihre Stunden mehr zu strukturieren – im Sinne der Mehrfach-Information,
aber auch, um nicht immer alle Fäden selbst in die Hand nehmen
zu müssen?
Schüler und Lehrer üben Kritik und Selbstkritik zum Unterricht
Lehrerinnen und Lehrer können die Beziehung zu den Schülern
klären, wenn sie sich sagen oder schreiben lassen,
wie die Jugendlichen den Unterricht und das Lehrerverhalten und ihr eigenes
Benehmen einschätzen. Das unterstützt die Selbstbesinnung
des Lehrers, aber auch die Selbstkritik der Schüler.
-
Da ist ein Geschichtslehrer, der verteilt alle paar Monate an jeden
Schüler drei Kärtchen: ein rotes, auf das sie negative Kritik
schreiben, ein grünes für positive Kritik und ein gelbes
für Selbstkritik der Schüler. Darüber sprechen sie
miteinander.
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In einer Realschule gibt es eine „Wir-über-uns-Stunde“.
Das Kollegium legt in jeder Woche eine andere Stunde fest, in der
Schüler mit dem Lehrer, der gerade in der Klasse ist,
ein Gespräch über die Schulzufriedenheit führen.
-
Eine Ethiklehrerin regt alle sechs Wochen ein freies Gespräch
an über – so nennt sie es – „das gute Leben
im Unterricht“.
-
Ein Lehrer setzt einen Fragebogen ein. Mit dessen Hilfe diskutieren
Schüler und Lehrer über Klassenklima, Lernerfolge, Ängste,
Wünsche.
-
Ein Englischlehrer führt eine feste Schülersprechstunde
ein. Die Jugendlichen können mit ihm besprechen, was sie bewegt,
was sie wissen möchten.
-
Ein Mathematiklehrer lässt die Schüler halbjährlich
in Kleingruppenarbeit eine Unterrichtskritik schreiben und diskutiert
diese mit den Schülern. Er selbst legt auch eine Kritik vor.
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Ein Deutschlehrer macht Probleme des Zusammenlebens zum Aufsatzthema.
-
Eine Lehrerin hat mit den Schülern vereinbart, Gespräche
über Disziplinprobleme nicht zu beenden, ohne ein Arbeitsbündnis:
einen Pakt, in dem beide Seiten festlegen, wie sie sich verhalten
wollen, damit gut gelernt werden kann.
Es geht um existenzielle Fragen für Lehrer und Schüler: Freust
du dich auf den nächsten Schultag? Hast du Angst vor einem Lehrer?
Geht die Lehrerin freundlich mit dir um? Behandelst du den Lehrer freundlich?
Findest du den Unterricht interessant? Interessierst du dich für
den Lernstoff? Schenkt dir der Lehrer ab und zu ein persönliches
Wort? Sagst du dem Lehrer, wenn dir der Unterricht gefällt? Merkst
du im Unterricht gut auf? Kannst du sicher sein, nur dann aufgerufen zu
werden, wenn du dich meldest? Hast du Vorschläge, wie du den Unterricht
verbessern kannst? Was würdest du dir am meisten von der Lehrerin
wünschen, damit du im Unterricht gut lernen kannst? – Aus dem,
was Jugendliche auf solche und ähnliche Fragen antworten, können
Lehrer viel „Unterrichtslehre“ lernen; denn Schüler haben
eine reichhaltige Erfahrung darin, wie sie den Unterricht erleben und
wie er sein könnte. Das kann unsere pädagogische Eigen-Bewegung
erhalten und unsere konstruktive Selbstkritik.
Verletzlichkeit: Die eigene Verletzlichkeit annehmen: Mögen mich
die Schüler? – „Hülle aus Härte und Stärke,
oder Sensibilität“?
„Mag mich die Lehrerin“ fragt sich der Schüler. „Mögen
mich die Schüler?“ fragt sich der Lehrer. Diese Frage bedrückte
Frau K.. Zögernd vertraute sie sich der Lehrer-Gruppe an. „Mich
deprimiert das Gefühl, die Kinder mögen mich nicht.“ Sie
fing an zu weinen. „Ich wäre auch gern von den Schülern
geschätzt, so wie meine Kollegin. Zu der schauen die Mädchen
auf, um die scharen sie sich in der Pause, mit der sind sie fröhlich.
Ich merke, die haben ein gutes Verhältnis.“
Die Lehrerin riskierte den Kummer, den sie durch ihre Selbstwahrnehmung
spürte. Wir bearbeiteten in der Gruppe, wie sie ihre Traurigkeit
produktiv machen könnte: indem sie ihr Eigensein entdeckt,
ihren Lebenswunsch nach einer freundlichen Beziehung zu Kindern akzeptiert.
Sie kann nicht sein wie die Kollegin, aber sie kann auf ihre
Weise eine freundliche Beziehung zu den Schülern anstreben. Das geht
nicht von heute auf morgen, sondern ist eine Entwicklung, die die Kollegin
mit Hilfe der Gruppe versuchen wollte. Bisher spürte sie nur Neid,
der sie verbitterte. Jetzt brach die Trauer über sie herein.
Der seelische Schmerz weckte verloren gegangene Lebendigkeit.
Verloren gegangene Empfindsamkeit beobachten wir bei Lehrern, die sich
panzern und dann nichts mehr spüren – von sich, von Kindern
und von Sachen. Sie wagen nicht, sich auch in den verleugneten Persönlichkeitsaspekten
wahrzunehmen. Zu dieser Wahrnehmung ermutigte ich die Lehrerin. Dazu musste
sie ihre liebens-würdigen Seiten entdecken und die abgelehnten in
ihre Person einbeziehen, statt abzuspalten. Die Frage war nicht „Was
tue ich wenn ...?“ Sondern: „Wer bin ich? Und wie möchte
ich sein?“ „Komme ich an mich selbst heran?“
„Kann ich ausdrücken, was mir Freude macht?“ Es ist die
Frage nach der eigenen Identität. Christa Wolf meint: „Ich
bin stark geworden dadurch, dass ich Weichheit zugelassen habe.“
(1)
Manche sich Lehrerinnen und Lehrer bauen sich eine Hülle aus Stärke
und Härte auf, um sich unangreifbar zu machen. Aber das ist nur scheinbare
Stärke, die sie anstrengt, sich selbst entfremdet und ihre Eigen-Bewegung
hemmt. Wer angreifbar ist, erschütterbar – es heißt dann
leicht: „der ist zu sensibel“ -, ist seelisch wie körperlich
gesünder als der Gepanzerte. Manche Lehrerin ist stark geworden,
indem sie Weichheit zugelassen hat.
Panzerung macht starr – Die eigene Verletzlichkeit annehmen
Ein Lehrer meinte in der Supervisionsgruppe: „Mich von den Schülern
einschätzen lassen, das pack ich nicht. Ich weiß, es wäre
sinnvoll, sie zu fragen, ob sie gern in meine Physikstunde kommen, ob
sie sich gut behandelt fühlen, ob ich ihnen genug helfe beim Lernen.
Aber ich habe Angst vor der Aggressivität mancher Schüler, die
meine Person entwerten.“ – „Das verstehe ich gut, auch
aus eigener Erfahrung“, sage ich; „denn es kommt bei solchen
Befragungen zu ungerechten Kränkungen; wenn Schüler Aggressionen
ausleben, Gemeinheiten, die womöglich gar nicht Ihnen gelten. Aber
wenn Sie die Kränkung wagen, kann sie auch produktiv werden, schließlich
ist es ihre seelische Empfindsamkeit. Und Sie erfahren auch Zustimmung,
von der Sie sonst nichts merken dürfen.“
In der Tat kann manche Kritik die Lehrerpersönlichkeit im Kern
treffen, wenn es um Zuneigung oder Ablehnung geht, darum ob Schüler
den Lehrer achten. Denn jeder Mensch bedarf der Zustimmung, von ihr hängt
die Selbstachtung ab. Umgekehrt fragt sich der Lehrer: Mag ich
die Schüler, lasse ich mich gern mit ihnen ein? Wie behandle ich
Jugendliche, die mir unsympathisch sind? Wer sich gegen diese Selbstwahrnehmung
panzert, wird starr. Er spürt nichts mehr von sich, von Kindern,
von Sachen. Zur Frage „Wer bin ich und wie möchte ich sein?“
gehört auch, sich mit seiner verwundbaren Stelle zu befassen und
die eigene Verletzlichkeit anzunehmen. Dazu gehörte, sich mit ihrer
verwundbaren Stelle zu befassen. Christa Wolf schreibt über die Unverwundbarkeit
im Siegfried-Mythos:
Der deutsche Mythos von Siegfried, dem Helden, der den Lindwurm
tötet und sich mit dessen Blut bestreicht, das ihn unverwundbar macht,
bis auf die eine Stelle seines Körpers, die er nicht erreicht, den
Fleck zwischen den Schulterblättern, wo der Speer ihn dann durchbohrt,
dieser Mythos sollte uns lehren: Immer gibt es eine Stelle, an der wir
verwundbar sind, es ist unsere lebendige, menschliche Stelle; wenn wir
auch die verschließen, hören wir auf zu atmen und sind tot.
Ordnung im Schulalltag – Schüler brauchen strukturierende
Hilfen für eine gute Arbeitsdisziplin
Um Disziplinschwierigkeiten vorzubeugen und sie gut regeln zu können,
muss ich mich immer wieder selbst in Ordnung bringen und brauche Ordnung.
Ordnung führt zu innerer Sammlung: Ordnung des täglichen
Tuns im Unterricht, der Dinge im Klassenzimmer, der Tätigkeiten im
Lauf des Schultags. In Lehrer-Supervisionsgruppen erlebe ich: Lehrer mahnen
zur Ordnung, aber nehmen sich zu wenig Zeit, Ordnung einzuüben.
Einüben, die Zeichen zu befolgen, zum Beispiel den Gong
zum Beginn des Unterrichts. Es gibt nur dieses Zeichen, nicht
noch ein Klatschen oder Rufen. Einüben, wie bei der Einzelarbeit
absolute Stille im Klassenzimmer angezeigt ist, die Stille beim selbstständigen
Lesen etwa; einüben, wie der äußere Rahmen bei
der Partnerarbeit sein muss, damit Mitschüler nicht gestört
werden, Einüben, wie wir uns im Kreis ohne Rempelei zusammensetzen.
Einüben der Gesprächsregeln, damit wir gut diskutieren
können. Besprechen und einüben, wie jeder seine
Ordnung in die Arbeitsmaterialien bringt, zum Beispiel wie er Arbeitsmappen
eine gute Gestalt geben kann. Statt diszipliniert zu werden, sollen Schüler
Disziplin lernen.
Es geht um Ordnungsformen unter ethischer Problemstellung:
Aufeinander Rücksicht nehmen, einander helfen, sich selbst „zusammen
nehmen“, Achtsamkeit, Freundlichkeit, Höflichkeit. Lehrer sollten
die von ihnen aufgestellten Normen vorleben, nicht nur aus pädagogischem
Imperativ des guten Beispiels heraus, sondern: weil wir uns damit selbst
ordnen und stärken.
Vereinbaren, statt anordnen
Ich-stärkend ist die Ordnung, wenn sie nicht nur auf An-Ordnung
von Lehrern geschieht, sondern wenn sie auf Vereinbarung gründet:
Vereinbaren statt anordnen geht. „Ich kann bei dieser Unruhe
keinen Unterricht halten und Ihr könnt dabei nichts lernen, die Situation
möchte ich beenden, darüber spreche ich mit Euch“, so
konfrontiert eine Lehrerin die Schüler. Die Jugendlichen können
Ihre Sicht vorbringen, ihre Unzufriedenheit, ihren Standpunkt.
Aus dem Aufzeigen des Ist-Zustandes erwächst die Aufgabe: Wie können
wir die unbefriedigende Situation miteinander verändern? Beide Seiten
bringen Vorschläge, aus denen werden Vereinbarungen – gemeinsam
formuliert, von allen niedergeschrieben. Diese Vereinbarung erproben wir,
üben sie ein. Manche Lehrer schließen Verhaltensverträge
mit der Klasse oder mit einzelnen Schülern ab, ich habe es immer
„pädagogisches Arbeitsbündnis“ genannt. Wir brauchen
ein Bündnis, um miteinander lernen zu können.
Wenn wir vereinbaren statt anordnen, werden Regeln nicht nur
Fremdverpflichtung, die der Lehrer mit Macht durchsetzt, sondern
Selbstverpflichtung, die die Jugendlichen motiviert, zur Unterrichtsordnung
beizutragen. Das Vereinbarte wird aufmerksam zu beobachtet und das Gelungene
bekräftigt. Das stärkt den Selbstwert der Schüler und des
Lehrers. Sie machen etwas nicht nur aus Zwang heraus, sondern aus der
Einstellung der Selbstdisziplin.
Ein freundlicher Tagesanfang als „Vorgabe“ – Die soziale
Anwärmzeit vor dem Unterricht
Gute Ordnungen geben „Halt“, den Schülern und
dem Lehrer. Von der Art des Tagesanfangs oder Stundenbeginns zum Beispiel
hängt auch ab, wie Klasse und Lehrer in den Unterricht hinein kommen.
Ich bringe ein Beispiel aus meiner eigenen Lehrerzeit. Da machte ich zur
unabdingbaren Ordnung, auch meiner inneren Ordnung, die morgendliche
Vorviertelstunde. In diesen 15 Minuten ließ ich mich durch nichts
stören, durch keine Eltern, Kollegen, keinen Schulleiter. Ich war
im Klassenzimmer, begrüßte die Schüler, wechselte mit
ihnen – wenn sie wollten – ein paar Worte, sie konnten sich
im Klassenzimmer Anschauungsmittel betrachten, in der Klassenbücherei
schmökern, sich auf den Unterricht vorbereiten, in Gruppen unterhalten,
mit einer selbst gewählten Arbeit beginnen, für die Pflanzen
im Zimmer sorgen. Ich ging auf Schüler zu, ohne mich aufzudrängen,
und sie konnten auf mich zugehen. Ich tat das aus dem Wunsch
heraus, Kinder kennen zu lernen, und mich selbst erkennen zu lassen. Und
ich brauchte den Kontakt, um die Angst vor einer „Masse“
so vieler Kinder zu mildern. Damals lag die Klassenstärke selten
unter 50. Durch die feste Ordnung der Vorviertelstunde milderte ich Fremdheit
und Ängste bei mir und den Schülern.
Ich war einfach „da“ und entdeckte bei manchen Schülern
ein anderes Gesicht. Im wörtlichen Sinn; denn unmittelbar
von Angesicht zu Angesichts sieht das Kind anders aus als im Block sitzend.
Ich sehe, dass es Sommersprossen hat, nehme im Augenkontakt seinen lebendigen
oder schüchternen Blick wahr. Mit dem ,anderen Gesicht’ meine
ich auch ,andere Seiten’ der Jugendlichen. Da ist ein Schüler
Spezialist in Radio-Technik, ein anderer spielt Theater, ein Mädchen
erzählt von einer Initiative, von einer anderen erfahre ich ihre
Lieblingssängerin. Da sehe ich einen mir unsympathischen Jungen,
ich kann ihn nicht mögen, aber ich kann ihm etwas Gutes tun, zum
Beispiel ihm eine Freundlichkeit erweisen. Diese „Nebenbei-Kontakte“
waren für mich hilfreich. Ich hatte Gelegenheit, vor der
Stunde auch mit den Schwierigen zu reden, ohne sie zu belehren. Aber ich
habe erfahren, dass diese „Schwierigen“ weniger schwierig
waren, wenn ich mit ihnen bereits vor der Stunde „in Beziehung“
stand: denn Bekanntschaft ist der Feind der Feindschaft. Da kehrte Ruhe
und Freundlichkeit in mir ein – und in den Kindern. Die
Schüler wussten für jeden Tag des Jahres: in dieser Zeit bin
ich da. Und Sie erlebten, dass sie von mir gesehen werden, dass
sie für mich eine Rolle spielten. Schließlich hing von ihnen
mein gutes Leben ab.
Vor dieser sozialen Anwärmzeit hatte ich alle Vorbereitung
auf den Unterricht abgeschlossen. Da hatte ich mich in Ordnung
gebracht. Wenn ich in dieser Ordnung einen Ruhepunkt in der Klasse bildete,
wirkte sich das auf die Schülerinnen und Schüler aus. Anders
als wenn ich mich noch schnell im Kopierraum mit anderen drängeln
muss, oder von einem unangenehmen Gespräch im Büro in die Klasse
hetze, oder mich von einer Schülermutter aufhalten lasse. Nach dieser
ruhigen Zeit begann der Unterricht mit der Besprechung des Lernplans:
dessen, was wir heute oder in dieser Stunde lernen werden. Selbst wenn
Lehrer nur eine Stunde in der Klasse sind, kann dieses Prinzip einer „Vorgabe“
hilfreich sein, und keine verlorene Zeit. Verlorene Zeit? Ich denke, mehr
Langsamkeit, statt der verbreiteten Hetze, täte Schülern und
Lehrern gut.
Günter Grass meint, wir bräuchten als Gegengift zur allgemein
vorherrschenden Beschleunigung eine für den Unterricht taugliche
Anweisung zur „Entdeckung der Langsamkeit“:
Ich schlage vor, in allen Schulen einen Kurs zur „Erlernung
der Langsamkeit“ einzuführen. Von mir aus darf es ein Leistungskurs
sein. Langsamkeit wäre eine Gangart, die der Zeit zuwider verliefe.
Die bewusste Verzögerung ... Das Erlernen des Innehaltens, der Muße.
Nichts wäre in der gegenwärtigen Informationsflut hilfreicher
als eine Hinführung der Schüler zur Besinnung ohne lärmende
Nebengeräusche, ohne schnelle Bildabfolge, ohne Aktion, und hinein
ins Abenteuer der Stille ... Ich weiß: ein Vorschlag, den zu realisieren
zwangsläufig die Zeit fehlen wird. Dennoch bitte ich Sie als Lehrer,
ihn nicht zu belächeln, sondern ihn spielerisch ernst zu nehmen.
Partnergespräch: Was sind Ihre Berührungspunkte?
-
Spielerisch ernst nehmen? Vielleicht könnten Sie das auch mit
dem einen oder anderen Gedanken, den ich Ihnen heute vortrage?
-
Lassen Sie sich von den Schülern in irgendeiner Ihnen gemäßen
Form mitteilen, wie die den Unterricht erleben, was sie sich anders
wünschen, um besser lernen zu können, und wo die Jugendlichen
bereit und fähig sind, verantwortlich mitzuarbeiten.
-
Wie ist das für Sie mit den Kontakten zu Schülern, wenn
Sie beispielsweise in einer Klasse sechs Stunden geben und in einer
anderen nur eine Stunde? Wie geht es Ihnen da mit der Beziehung?
-
Wie gelingt es Ihnen, Ihrem Unterricht eine gute Gestalt zu geben,
die Ihnen entspricht und den Schülern das Lernen erleichtert?
Das Problem der Lehrer-Macht – Machtausübung aus Hilflosigkeit
Bei Lehrer-Schüler-Konflikten spielt die Einstellung zur Macht
eine Rolle. Mit einigen Überlegungen dazu möchte ich Sie fragen:
Könnten Sie es sich vielleicht etwas leichter machen mit weniger
Macht? Erziehungs-Macht ist notwendig, um eine Ordnung zu schaffen, die
Schüler mit Erfolg lernen lässt, eine Ordnung, die Lehrern ermöglicht,
gut zu lehren. Der dazu unentbehrliche Gehorsam der Kinder soll
zunehmend zu einsichtigem und selbstbestimmtem Gehorsam
führen, Disziplin zur Selbstdisziplin werden. Die
Erziehungs-Macht entartet zu absoluter Macht und zum Macht-Missbrauch,
wenn Lehrer Jugendliche klein machen, ängstigen, auslachen, demütigen,
ihnen Fähigkeiten absprechen, über ihre Bedürfnisse hinwegsehen,
sie gefügig machen.
Ein Lehrer erklärt dem jungen Kollegen seine Einstellung: „Sie
dürfen die Schüler nie die Oberhand gewinnen lassen, sonst werden
Sie fertig gemacht. Deshalb fange ich streng an. Gleich am ersten Tag,
an dem ich eine neue Klasse bekomme, zeige ich, wer Herr im Haus ist.
Schwätzt ein Schüler, schaue ich ihn scharf an und sage: ,Du
da hinten – ja, du genau! Halte gefälligst deinen Mund!’
Das wirkt auf die Klasse einschüchternd. Die Schüler mucken
nicht mehr auf. Meist erteile ich schon in den ersten Tagen einen Verweis,
das ernüchtert sie und sie parieren.“
Lehrer üben die Abschreckung oft nicht böswillig aus. Sie
greifen zur Macht als Nothilfe, denn sie haben keine pädagogischen
Mittel. In ihrer Ausbildung sind Sachen wichtiger als Menschen. Der Konflikt
bearbeitende Umgang mit Schülern ist kein Thema.
Über den Lehrer selbst wird durch die Schulstruktur Macht ausgeübt:
durch Unterrichtsgesetze und Erlasse, die ihn in seiner pädagogischen
Freiheit einengen. Er muss vielfach gegen die Schüler
arbeiten. Das bringt pädagogisch denkende Lehrer in Konflikt
mit ihrem Lehrerbild. Denn die Folge ist Beziehungsverlust. Um den institutionell
gestörten Kontakt auszuhalten, müssen ihm die Schüler
gleichgültig werden. Andernfalls könnte er manche Anordnung
nicht befolgen.
Ein Lehrer stellt das Machtprinzip bei der geforderten „Normalverteilung“
der Noten in Frage
In diesem Dilemma sah sich Herr Frey. Er sollte an seiner Schule Noten
nach der Normalverteilung vergeben und dachte über die Sortierung
nach: „Wie ist das bei mir? Wenn Einser und Zweier überwiegen,
eine geringe Anzahl Dreier die Mitte ausmacht, und dem nur einige Vierer
und Fünfer gegenüber stehen, bin ich da froh um die Fünfer
und Vierer? Ehrlich gesagt: Ein wenig froh bin ich. Denn ich muss den
Notendurchschnitt eintragen, und der ,Schnitt’ darf nicht zu gut
sein. Es muss auch Schlechte geben, heißt es.“
Der Lehrer muss Schlechte herstellen? Noten so zu vergeben,
ist nicht normal. Das Zufallsgesetz gilt nicht für den Unterricht,
denn der ist kein Zufalls-Geschehen. Schon gar nicht stimmt die Gauß’sche
Glockenkurve für zwanzig Kinder, sie gilt für Zehntausende und
keinesfalls für eine geistige Leistung. Weshalb genieren
sich intelligente Menschen nicht, sich ein so widersinniges Handeln vorschreiben
zu lassen? Sie müssen ihren Verstand ausschalten, um blind zu gehorchen.
Das erinnert an die Mitteilung der Expertin für Bio-Ethik, Christine
von Weizsäcker. Sie schreibt von der bedrückenden Vorstellung,
das Experiment eines Neurophysiologen könnte sich auch für die
menschliche Gesellschaft als gültig erweisen: dass wir „hirn-amputierten“
Befehlsgebern folgen.
Der Forscher experimentierte mit dem Nervensystem. Dazu untersuchte
er das Schwarmverhalten von Fischen. Er nahm aus einem Fischschwarm einen
Fisch und unterbrach in ihm die Verbindung des Körpers zum Großhirn.
Der Forscher wollte sehen, ob der gehirn-amputierte Fisch sich im Schwarm
halten kann. Was geschah? Dieser Fisch war frei von Mitwelt-Wahrnehmung,
ohne Rücksicht und Vorsicht. Er schwamm ungebremst ziellos im schnellen
Zickzack umher – und: der ganze Schwarm folgte ihm! Sein unvernünftiges
Verhalten machte, so könnte man denken, auf den Schwarm den Eindruck,
er wisse, wo’s lang geht ... Wenn ich mir unsere Gesellschaft anschaue,
kommt mir immer häufiger der Verdacht, die Mehrheit folgt denen mit
amputierter eingeschränkter Wahrnehmung.
Sozialer Ungehorsam gegen bürokratische Unvernunft
Lehrer Frey wollte nicht folgen. Er arbeitete mit seiner Klasse am Projekt
„Unser Wald“ und begeisterte die Schüler für naturkundliches
Denken. Auf Unterrichtsgängen beobachteten sie Tiere, mikroskopierten,
wählten in Gruppen Themen wie „Der Ameisenstaat“, „Die
Vögel des Waldes“, „Das Waldsterben“. Die Jugendlichen
sprachen mit Fachleuten; sie unternahmen mit dem Förster einen Waldgang.
Am Ende des Projekts dachten sich Lehrer und Schüler gemeinsam
Prüfungsfragen aus. Der Lehrer fragte nicht nur nach dem Grundwissen,
sondern stellte auch offene Aufgaben. In denen konnten die Schüler
zeigen, was sie persönlich als „Spezialisten“
gelernt haben. Bei diesem Projekt kam es zu keinen Disziplinschwierigkeiten,
so intensiv arbeiteten die Schüler.
Lernpsychologischerweise schrieben die Jugendlichen kenntnisreiche Arbeiten
und freuten sich über ihren Wissenszuwachs. Der Lehrer musste sich
jedoch wegen der guten Schülerleistung rechtfertigen: der Notendurchschnitt
sei zu gut, er müsse die Zensuren drücken. Herr Frey wollte
das seinen motivierten Schülern und sich selbst nicht antun. Aber
es ängstige ihn, im Kollegium aus der Reihe zu tanzen. So deformiert
ist das Denken durch das Machtprinzip und durch ein unpädagogisches
Leistungsverständnis: niemand freute sich über das Können
der Jugendlichen und interessierte sich dafür, wie es zustande kam.
Herr Frey machte sich sachkundig und referierte in der Konferenz über
das pädagogische Unrecht, das den Schülern widerfährt.
Er war ungehorsam gegenüber einer Verordnung, die weder in der Schulordnung,
noch im Unterrichtsgesetz steht. Er regte das Kollegium zum Denken an,
mit dem Ergebnis: Auch andere wollten nicht mehr vorschriften-hörig
am verordneten Klassendurchschnitt festhalten. Ohne sozialen Ungehorsam
gibt es keinen Fortschritt, auch nicht in der Schulpädagogik. Der
zivilcouragierte Lehrer widerstand der Gefahr, die Christa Wolf so ausdrückt:
„Wer sich in einer verkehrten Welt einrichtet, wird selbst verkehrt.“
Der hohe Preis der Macht: Die „Krankheit der Macht“ –
Vom Machtprinzip zum Sympathieprinzip
Diese „Verkehrtheit“ kann zur „Krankheit der Macht“
führen. „Wer Macht ausüben will, muss wissen“, schreibt
der Psychoanalytiker Mario Erdheim, dass er sich auf etwas einlässt,
das ihn früher oder später selbst traumatisiert“,
ihn selbst beschädigt. Wer an der Macht ist, „darf
nicht merken, dass er traumatisiert wird. „Er darf nicht
merken, dass er an diesem Ort etwas erlebt, das ihn zutiefst verletzt,
etwa durch den Abzug der Liebe aus der Welt, und dass er das weitergeben
muss.“ Was ihn seelisch schädigt, ist die der Macht innewohnende
Gleichgültigkeit und Rücksichtslosigkeit.
Macht behauptende Lehrer, wie solche, die pädagogisch unterrichten
wollen, spüren etwas vom „Traumatisierenden an der
Macht“; es sei denn sie verleugnen oder verdrängen es und werden
womöglich krank, früh berufsunfähig, lassen sich vorzeitig
pensionieren. Der Zusammenhang zum Selbst-Schädigenden der Macht
wird wenig gesehen. Ich möchte Sie an einigen Aspekten auf den hohen
Preis der Macht hinweisen. Ich stelle am Ende jeweils behutsam eine Frage
zur Linderung: ob Sie nicht dort, wo Sie sich angesprochen fühlen,
ein Stück vom Machtprinzip zum Sympathieprinzip hinrücken könnten,
je nachdem, wo Sie stehen in dem Vermischt-Sein von Machtprinzip und Sympathieprinzip.
-
Machtprinzip: Der Lehrer muss immer alle Fäden in der Hand
haben, alles tun, um die Aufmerksamkeit auf sich zu richten.
Vorwiegende Methode ist der „gelenkte Unterricht“: Der
Lehrer muss fortwährend lenken, das strengt an. –
Frage: Könnten Sie – sich zu Liebe – versuchen, mehr
zu „lassen“, die Schüler verantwortlich „mitlenken“
lassen, zum Beispiel durch mehr Selbsttätigkeit?
-
Machtprinzip: Der Lehrer ist verpflichtet, gegen das Widerstreben
der Schüler den Lehrplan durchzusetzen. Oft ist er selbst
nicht von dessen Sinn überzeugt. Das Widerstreben gegen das Desinteresse
der Jugendlichen zu überwinden, raubt ihm Kräfte. –
Sympathieprinzip: Könnten Sie es sich und den Schüler leichter
machen, indem Sie mutig überflüssigen Stoff weglassen und
den Unterricht stärker an die Interessen der Schüler anknüpfen?
-
Machtprinzip: Im frontalen Wortunterricht müssen Lehrerinnen
und Lehrer die Jugendlichen zum Zuhören zwingen: ein
Verhalten verlangen, das gegen die Natur der Kinder verstößt,
etwa stundenlang still zu sitzen. Er darf muss viel und laut sprechen,
das kann ihn erschöpfen. – Pädagogisches Prinzip:
Wäre es denkbar für Sie, wenigstens einmal in der Stunde
eine Partnerarbeit einzufügen? „Probiert jetzt zu zweit,
ob Ihr dieses Problem lösen könnt.“
-
Der Macht behauptende Lehrer fühlt sich von schwierigen Schülern
umstellt. Er gerät in Gefahr, ständig gegen das „Feindbild
Schüler“ auf der Hut zu sein. Deshalb muss er
seine Macht stabilisieren: durch Strafen. Er muss der
Verfolgung vorbauen, die in seinem Erleben von den störenden
Schülern ausgeht und die Jugendlichen klein halten. Das wird.
– Sympathieprinzip: Könnten Sie überlegen, wie Sie
durch mehr Kontakt mit den Schülern Ihr Feindbild-Denken abbauen
– ebenso das „Feindbild Lehrer“ der Schüler?
-
Er darf keine Rücksicht nehmen und muss gegen einen
Teil der Schüler rücksichtslos vorgehen. Auch wenn
er kein rücksichtsloser Mensch ist, zwingen ihn die Machtstrukturen
der Schule, Schüler zu überfordern, zu zensieren, durchfallen
zu lassen, zu kränken, sie zu ängstigen, früh auszusondern,
täglich zu bewerteten Menschen zu machen. Er muss das
Pensum erfüllen und dabei Schwache in eine hilflose
Lage bringen. – Könnten Sie das in diesem Schulsystem Mögliche
tun, um Kindern Angst zu nehmen, und sei es nur, dass Sie das mündliche
Abfragen nicht unangekündigt und überraschend durchführen?
Oder dass Sie sich mit allen guten pädagogischen Gründen
gegen einen vorgeschriebenen Notendurchschnitt wehren?
-
Macht behauptende Lehrerinnen können von Kindern keine Sympathie
erwarten. Dieser Verzicht, von Schülern gemocht zu werden, ist
eine Kränkung, selbst wenn sie verleugnet wird. Sie müssen
ihrerseits gegenüber den Schülern emotional gleichgültig
sein, um ihnen die verordneten Kränkungen anzutun. – Könnten
Sie sich dieser Härte entziehen, indem Sie von sich aus versuchen,
mit den Schülern eine zugewandte, verständnisvolle Beziehung
zu wagen, die auch Ihnen gut tut?
-
Der Lehrer muss fortwährend kontrollieren, testen,
prüfen, ausfragen, abfragen, Aufgaben überprüfen, Anwesenheit
feststellen. Diese Kontrolle ist ihm aufgetragen, sie ist Teil der
Macht, bleibt aber als Machtausübung oft unerkannt, denn Kontrolle
zählt zur Normalität des Schulalltags. – Könnten
Sie diese Kontrollen lernpsychologisch sanfter durchführen, sodass
die Schüler nicht in eine lernstörende Drucksituation kommen?
-
Lehrer selbst bekommen die Macht der Kontrolle zu spüren, zum
Beispiel durch Visitationen, „Schulbesuch“ genannt, die
in manchen Schulen unangekündigt erfolgen – als müssten
Lehrer bei etwas Unrechtem ertappt werden? – Könnten Sie
den vorgesetzten Kollegen bitten, er möge sich zum „Besuch“
anmelden, damit Sie sich nicht so unter Druck setzen müssen?
-
Der Macht behauptende Lehrer muss daran arbeiten, seine Macht auszubauen.
Dazu ist vorbeugende Strenge vonnöten, sie soll den
gefürchteten Machtverlust verhindern. Mit jedem Machtzuwachs
muss sich der Lehrer noch mehr gegen Verletzlichkeit schützen.
Er muss mehr Strenge walten lassen, härter bestrafen, schärfer
disziplinieren, er darf nichts durchgehen lassen. – Sympathieprinzip:
-
Die Gefahr, es könnte nicht gelingen, seine Macht zu behaupten,
macht den Lehrer verletzlich; deshalb muss er seine Macht ausbauen:
absolut konsequent sein, strenge Regeln aufstellen, keinen Widerspruch
dulden. Das ist anstrengend. – Könnten Sie einen für
Sie gangbaren Weg finden, Macht abzubauen, zum Beispiel dadurch, dass
Sie die Schüler Kritik üben lassen, Sie selbst Ihre
Kritik einbringen und darüber gemeinsam reden? Könnten Sie
über all das mit aufgeschlossenen Kolleginnen und Kollegen sprechen?
Könnten Sie sich vornehmen, in einer Stunde einmal nur auf das
Geglückte zu schauen, und dies auch zu benennen?
Das menschliche Maß der Erziehungs-Macht durch das Sympathieprinzip
– Schüler dabei „ertappen“, etwas zu können
Die Schule ist immer noch durchsetzt vom Machtprinzip: über die
Schüler wird verfügt, ohne dass sie zustimmen können.
Aus der lernstörenden Situation des Machtprinzips auszusteigen, gelingt
nur, wenn Lehrer ihre Macht vermindern: durch ein menschliches
Maß der notwendigen Erziehungs-Macht, durch die helfende Beziehung
zu den Schülern, durch das Sympathieprinzip. Sympathie,
die zugewandte gefühlsgeleitete Einstellung zu anderen Menschen:
Fähig und bereit sein, spontan mitzufühlen, andere zu verstehen.
Mit dem Sympathie-Impuls nehmen wir An-Teil: Wir teilen Freude
und Kummer, Stärke und Schwäche. Was bedeutet das Sympathieprinzip
in der von Schülern gefürchteten, vom Machtprinzip geleiteten
Abfragens um der Benotung willen? Das erzwungene „Drankommen“
kann für Schüler peinlich sein, sie in Angst versetzen, Kinder
in Misserfolg und Beschämung stürzen.
Ich fragte Lehrerinnen und Lehrer in Supervisions-Gruppen und Seminaren:
„Wie fordern Sie die in manchen Bundesländern unterrichtsgesetzlich
vorgeschriebenen ,mündlichen Leistungsnachweise’ ein, wenn
sie ihre Schüler nicht plötzlich „drannehmen“
und erschrecken wollen?“ Aus der Fülle der Anregungen führe
ich einige „sympathische“ Vorschläge auf:
„Ich lasse einzelne Schüler für den Beginn der Stunde
eine kurze Zusammenfassung der vorhergehenden Stunde vorbereiten. Sie
soll uns ermöglichen, an das heutige Thema anzuschließen.“
“Wir haben in der Klasse vereinbart: Ich rufe Schüler nur
auf, wenn sie sich melden. Wir erörterten ausführlich die Gründe
dafür und die Verantwortlichkeit der Schüler. Die Mitarbeit
wurde nach dieser Vereinbarung lebendiger.“
„Ich lasse in jeder Sozialkundestunde einen Schüler über
ein wichtiges politisches Ereignis des Vortags berichten, das für
uns bedeutsam ist, aus Zeitung, Radio, Fernsehen oder Internet; oft sind
es zum Beispiel Umweltprobleme.“
„Die Schüler melden sich für einen mündlichen Beitrag
zur nächsten Stunde an.“
„Bei mir können die Kinder auch in der Partnergruppe etwas
vortragen; es soll den Stoff ergänzen, den wir gerade durchnehmen.
Sie bereiten ihren kurzen Beitrag gemeinsam vor und wechseln sich in der
Darbietung ab.“
„Die Schüler sollen wissen, wann sie von mir drangenommen
werden. Deshalb frage ich nach dem Alphabet ab.“
„Im Französischunterricht lasse ich die Schüler zu Hause
Tonkassetten besprechen, damit ich ihre Aussprache höre. Da strengen
sie sich sehr an und haben eine sinnvolle Übung. Ich höre mir
die Kassetten zu Hause an und mache mir Notizen für die Verbesserung
der Aussprache.“
„Im Deutschunterricht nutze ich viele Möglichkeiten. Die
Schüler können eine Geschichte vorlesen, die sie selbst geschrieben
haben, oder einen Kurztext, oder ihr Lieblingsgedicht vortragen, oder
einen Tagebuch-Eintrag, oder ein eigenes Gedicht, oder eine Kostprobe
aus ihrer bevorzugten Lektüre.“
„Bei mir machen die Schüler untereinander aus, wer einen
,mündlichen Leistungsnachweis’ bringt. Sie wählen einen
verantwortlichen Schüler, der regelt mit ihnen, wer in der nächsten
Erdkundestunde einen interessanten 5-Minuten-Beitrag vorträgt oder
auch etwas vorzeigt.“
Die Fülle von Vorschlägen war davon geleitet, die Schüler
nicht Macht behauptend gegen ihren Willen aufzurufen, sondern ihnen Angst
zu ersparen und Lernerfolg zu ermöglichen. Eine Kollegin sagte: „Ich
möchte die Schüler doch nicht reinlegen, sondern dabei ,ertappen’,
dass sie etwas können.“ Allen ging es darum, die einschüchternde
Kontrolle abzubauen zugunsten der pädagogischen Beziehung. In ihr
hat das Lernen Vorrang, nicht das Prüfen. Diese Lehrerinnen
und Lehrer opfern ihre pädagogische Freiheit nicht der „Pathologie
der Normalität“ des Abfragens.
Partnergespräch: Was geht Sie an?
-
Kann es sein, dass Sie etwas von der „Krankheit der Macht“
spüren? In Ihrem Erleben – oder in Ihrem Körper? Merken
Sie, wenn das Anstrengende des Berufs mit dem Machterhalt in der Klasse
zusammenhängt?
-
Wie versuchen Sie, anstelle des Machtprinzips das Sympathieprinzip
zu setzen: also die auf gegenseitige Einfühlung bedacht, die
pädagogische Beziehung, den pädagogischen Takt?
-
Fühlen Sie sich im Kollegium akzeptiert, vielleicht sogar gut
aufgehoben?
-
Wo würden Sie gern anders, nämlich pädagogisch, handeln,
aber werden durch die Schulstrukturen daran gehindert?
Stärkt das Sympathieprinzip die Lehrer-Gesundheit? – Gesund
erhaltende seelische Merkmale
Es wäre hilfreich, das in der Schule noch vorherrschende Machtprinzip
im Zusammenhang mit den häufigen psychosomatischen Erkrankungen von
Lehrern zu sehen – und umgekehrt zu fragen: Was macht eigentlich
gesund? Bei psychologischen Untersuchungen und in der Psychotherapie
zeigen sich Persönlichkeitsmerkmale, die nachweislich gesund erhalten.
Ich nenne Ihnen sieben solcher seelischen Merkmale:
-
Die sichere Beziehung: Sich auf andere Menschen verlassen
können, und diese als glaubwürdig erleben, ist eine gesund
erhaltende und heilende Kraft. Personen, die sich „gut aufgehoben“
fühlen, werden seltener krank. Ein kooperatives, halt-gebendes
Schulklima, speziell auch im Kollegium, wirkt sich günstig auf
die Lehrer-Gesundheit aus, ebenso wie die Sympathie in der Beziehung
von Schülern und Lehrern.
-
Selbstvertrauen und Mut: Das Bewusstsein, in Problemsituationen
wirkungsvoll handeln zu können, erhält gesund und stärkt
die körperliche Abwehr. Deshalb müssten Lehrerinnen und
Lehrer besser für ihren Beruf fortgebildet werden, nämlich
für den Umgang mit Menschen, für das Sich-Einlassen
auf das gemeinsame Lernen und die Konfliktbearbeitung.
-
Heitere Grundstimmung: Freude erhöht die Widerstandskraft
gegen Infektionskrankheiten. Hingegen machen Furcht, Entmutigung,
Verzweiflung und Bedrückung anfällig für Ansteckung.
Positiv gestimmte Menschen werden seltener krank als pessimistische.
Deshalb ist es eine existenzielle Frage: Geh ich als Lehrerin gern
in die Schule? Wie oft freue ich mich auf den nächsten Unterrichtstag?
-
Aktive Lebensgestaltung: Überzeugt sein, die Ereignisse
des Lebens beeinflussen zu können, eigene Gestaltungsfähigkeit
zu besitzen und nicht nur den Umständen ausgeliefert zu sein,
stärkt Seele und Körper. Lehrerinnen und Lehrer, die mit
Eigenes schaffen, eigene Ideen in ihren Schulalltag bringen, sich
kompetent erleben im Unterrichten, im Lösen von Kollegen-Konflikten
oder Problemen mit Schülern, stärken ihr seelisch-körperliches
Wohlbefinden.
-
Das positive Selbstwertgefühl: Etwas gelten, Zustimmung
erleben, als ganze Person akzeptiert werden, überzeugt sein,
dass man etwas wert ist, trägt dazu bei, gesund zu bleiben. Lehrer,
die nie ein anerkennendes Wort hören – von Vorgesetzten
und Kollegen, von Eltern und Schülern, mögen sich vielleicht
einreden, das bräuchten sie nicht. Aber womöglich zeigt
sich die Kränkung im Kranksein.
-
Spontaneität und Eigen-Bewegung: Sich bewegen –
körperlich, seelisch und geistig – ist nicht nur für
Kinder ein existenzielles Bedürfnis. Nur wenn sich Menschen ausreichend
bewegen und wenn sie Kreativität entwickeln dürfen, können
sie körperliche Gesundheit und geistige Beweglichkeit entfalten.
-
Zuversicht und Hoffnung: Menschen mit zuversichtlicher
Lebenseinstellung sind weniger krankheitsanfällig als solche,
die nicht auf Lebensglück hoffen dürfen. Die Schule ist
ein wichtiger Teil des Lehrer-Lebens. Auch Glück ist eine Erfahrung,
die Lehrerinnen und Lehrer in ihrem Beruf machen können, das
kann auch zum Glück für Kinder werden.
Lehrer-Sein, eine Sisyphus-Arbeit? – „Wir müssen uns
Sisyphus als einen glücklichen Menschen vorstellen“
Dennoch: Lehrer-Sein, eine Sisyphus-Arbeit, aber vergeblich? Der von
den Göttern bestrafte Sisyphus wälzt den Stein auf den steilen
Berg, obwohl er weiß: Der Felsblock rollt zurück. Er sieht,
wie der Stein in jene Tiefe rollt, aus der er ihn wieder auf den Gipfel
wälzen muss. Aber, meint Albert Camus, Sisyphus behauptet trotzig,
er sei glücklich mit seinem Stein. Können wir als Lehrer glückliche
Steine-Wälzer sein? Ja, meint Camus. Das „macht aus dem Schicksal
eine menschliche Angelegenheit, die unter Menschen geregelt werden muss.
Darin besteht die verschwiegene Freude des Sisyphus. Sein Schicksal gehört
ihm. Sein Fels ist seine Sache. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz
auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphus als einen glücklichen
Menschen vorstellen.“
Also wälzen wir den Fels? Ich selbst sehe Sisyphus gern als meinen
Schutzpatron: den Stein wälzen und Ja dazu sagen, auch wenn ich weiß:
er bleibt nicht oben liegen. Und wäre es für fröhliche
Steine-Wälzer nicht eine erschreckende Vorstellung, bliebe er eines
Tages oben liegen? Dann könnten wir nicht immer wieder neu anfangen
und uns wandeln – mit Bertolt Brecht: Alles wandelt sich
Alles wandelt sich
Alles wandelt sich. Neu beginnen
Kannst du mit dem letzten Atemzug.
Aber was geschehen, ist geschehen. Und das Wasser
Das du in den Wein gossest, kannst du
Nicht mehr heraus schütten
Was geschehen, ist geschehen, Das Wasser
Das du in den Wein gossest, kannst du
Nicht mehr heraus schütten, aber
Alles wandelt sich. Neu beginnen
Kannst du mit dem letzten Atemzug.
Ich wünsche Ihnen für Ihr Lehrer-Sein ein immer wieder neues
Beginnen.
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1 In: Herlinde Koelbl: Im Schreiben zu Haus (19982) S. 242
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