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Kurt Singer: Vortrag in Würzburg vor Lehrern des König-Friedrich-Gymnasiums
am Mittwoch, 16. November 2005, ungekürzte Fassung

Lehrer-Schüler-Konflikte miteinander regeln
Unterrichtsstörungen und Erziehungsschwierigkeiten im Schul-Alltag

Ich spreche zu Ihnen über die Frage: Wie können wir Konflikte im Schulalltag miteinander regeln? Ich werde Sie in meinem Vortrag nicht belehren, sondern wünschte, ich könnte Sie berühren an Stellen, an denen das Konflikt-Thema für Sie persönlich bedeutsam ist. Ich möchte Sie zu einer pädagogischen Selbstbesinnung anregen. Und zwar nicht unter der Frage: Was tue ich wenn ...?, sondern unter der persönlichen Frage: Wer bin ich? Wie möchte ich als Lehrerin oder Lehrer sein? Ich möchte Sie nicht fortbilden, sondern würde Sie gern zur Selbstwahrnehmung ermuntern, wenn Sie das wollen. Die Beispiele, die ich bringe, sind nicht zum Nachmachen, sondern zum Nachdenken. Sie stammen aus meiner Arbeit mit Lehrergruppen, aus Beratungen und aus meiner eigenen Lehrerzeit. Ich beginne mit einem Beispiel.

Hilft es gegen die Unaufmerksamkeit des Schülers, wenn die Lehrerin aufmerksam ist? – Hören, verstehen, besser lernen

Eine Lehrerin berichtete folgende Erfahrung: „Peter störte seit Tagen immer wieder den Unterricht; er war schwatzhaft, unruhig, belästigte die Mitschüler. Ich wurde an diesem Vormittag ungeduldig und sagte zu ihm in barschem Ton: ,Mir reicht's jetzt, zur Strafe bleibst du heute nach dem Unterricht da und arbeitest nach, was du durch deine Unaufmerksamkeit versäumt hast.’ Er tat das widerspruchslos, ich arbeitete an meinem Schreibtisch. Gelegentlich fragte er mich wegen einer Aufgabe, dabei kamen wir ins Gespräch. Er erzählte von seinem Hund, einem Labrador, den er gern mag und er sagte mir, dass seine Mutter wegen einer Operation im Krankenhaus liege. Ich hörte zu, es interessierte mich. Am Ende des Nachsitzens verabschiedeten wir uns. Mir verschlug es die Sprache, als Peter zu mir sagte: ,Da musste ich mich jetzt schlecht benehmen, um in Ruhe mit Ihnen reden zu können.’“

Ja, dachte sie, wann habe ich mit Peter zuletzt ein persönliches Wort gewechselt? Kein mahnendes, forderndes, strafendes, anspornendes, sondern einfach so einen verbindenden Satz nebenbei? Und wie geht das bei 27 Kindern? Aber sind alle 27 Kinder gleich bedürftig? Wie finde ich jene heraus, die das Zuhören so dringend brauchen, wie mir das Peter mit seiner Bemerkung zeigte: ,Da musste ich mich schlecht benehmen, um mit Ihnen reden zu können.’ Wie viel Unaufmerksame habe ich in meiner Klasse, die mehr Aufmerksamkeit bräuchten?

Die Lehrerin fügte etwas über die Nachwirkungen des Ereignisses hinzu: „Peter war in den folgenden Tagen wie verwandelt: aufmerksam und willig, im Unterricht und mir gegenüber sehr bemüht, ohne zu stören.“ Was verwandelte ihn? Kann das gute Wort Wunder wirken? Die Lehrerin hat sich für ihn interessiert, für ihn als Person, nicht nur als Schüler. Die zugewandte Beziehung wirkte sich beruhigend auf Peter aus – und auf Frau O. Die der Lehrerin unbewusst abgerungene Aufmerksamkeit machte den Jungen aufmerksamer und verstärkte den Lernwillen. Vielleicht war es das, was Bertolt Brecht in zwei Zeilen über das Lehren ausdrückte, ich mache es zum Motto meines Vortrags:

Lehren
Der nicht versteht,
muss erst das Gefühl haben, dass er verstanden wird.
Der hören soll,

muss erst das Gefühl haben, dass er gehört wird.

Ich setze vor des Dichters Wort den Begriff „Schüler“, dann heißt es: Ein Schüler, der nicht versteht, muss erst das Gefühl haben, dass er verstanden wird. Ein Schüler, der hören soll, muss erst das Gefühl haben, dass er gehört wird.

Identitäts-Probleme angesichts einer unaufmerksamen Klasse – „Ich bin nicht so, wie ich als Lehrerin sein möchte“

Im folgenden Beispiel ging es um eine ganze Schulklasse, die nicht „hören“ wollte. Eine Lehrer-Gesprächs-Gruppe von acht Teilnehmern traf sich mit mir vierzehntägig, jeweils zwei Stunden. Wir bearbeiteten Schwierigkeiten aus dem Schul-Alltag. An diesem Mittwochabend brachte eine Lehrerin ihr Disziplin-Problem zur Sprache: „Ich bin nicht so, wie ich als Lehrerin sein möchte.“ Das ist eine existenziell dramatische Aussage; es geht um ihre Identität, ihr Selbstbild. Sie fährt fort: „Ich schreie die Schüler an, wo ich es doch grässlich finde, zu schreien. Ich rede viel zu viel, dabei nehme ich mir immer wieder vor, die Schüler nicht tot zu reden. Ich erteile Verweise, obgleich ich darin wenig Sinn sehe. Aber ich werde mit dieser Klasse einfach nicht fertig. Die Schüler sind mir überlegen und ich kämpfe ständig darum, meine Überlegenheit wieder zu gewinnen. Manche Schüler reden in einem fort, hören nicht zu, die Stimmung ist gereizt. Die nehmen mich nicht ernst, und meine Ohnmacht macht mir Angst.“

Ich fragte Frau K.: „Wie sieht das ganz praktisch in Ihrer Stunde aus?“ – „Heute Vormittag habe ich in der Erdkundestunde die ganze Zeit gequasselt, die Schüler wurden immer unaufmerksamer, ich wurde immer lauter. Nach solchen Stunden gehe ich bedrückt nach Hause, körperlich verspannt, das macht mich noch ganz krank. Aber ich weiß nicht, was ich machen soll.“ – Ich frage: „Was möchten Sie denn machen?“ – Sie darauf: „Ich möchte von meinem Gequatsche weg kommen, vielleicht wird es dann ruhiger.“ – Ich sage: „Wenn Sie weniger reden wollen, weshalb reden Sie dann nicht weniger?“ – Sie sagt: „Ich hab’ doch keine Zeit, mich so ausführlich vorzubereiten; schließlich sind da auch noch die anderen Stunden ...“, so geht die Klage weiter. Diese Lehrerin hat sich in der bedrängenden Situation selbst aufgegeben. Sie schimpft auf sich, auf die disziplinlosen Schüler, den Lehrplan, das Schulsystem. Als Aufgabe de Gruppe sah ich, ihr aus ihrer Resignation heraus zu helfen.

Es galt zunächst, ihre Resignationspunkte herauszufinden; denn hinter jeder Resignation im Lehrer-Alltag steckt auch verloren gegangene Lebendigkeit; diese Lebendigkeit möchte ich wieder entdecken. Die Lehrerin nannte das Zeitproblem, die Mühe mit den eigenen Kindern zu Hause. Sie habe zwar Vorstellungen von schönen Projekten, aber die könne sie ja doch nie verwirklichen. Die Gruppenteilnehmer überlegten, fragten nach, brachten Einfälle: nicht als Ratschläge, sondern für gemeinsames Nachdenken. Eine Kollegin fragt: „Wie fangen die Störungen in der Klasse an?“ Eine andere: „Könntest du vielleicht anstatt des vielen Redens die Schüler selber etwas aus dem Erdkundebuch erarbeiten lassen?“ Wieder eine ermunterte Sie: „Und wenn du das, was du uns hier erzählst, über dein Gequatsche und so, deinen Schülern mitteiltest? Die müssten doch hören, was dich so nervt, was du uns hier erzählst – statt dass du immer nur auf sie einschimpfst?“ Wir sagten Frau K. nicht, was sie tun sollte, sondern überlegten einfach, was uns jetzt in dem geschützten Raum der Gruppe einfällt – Frau K. wollte jedenfalls den Gedanken festhalten, ihre Unzufriedenheit ihrer Klasse mitzuteilen, statt ständig zu mahnen. Ich ermutigte sie, sich begreifen zu lassen, damit die Schüler eine Chance haben, sich in sie einzufühlen und Rücksicht auf sie zu nehmen.

Solche Gespräche in der Lehrergruppe wirken bereits an sich hilfreich: Die Lehrerin fühlte sich nicht allein gelassen, sie erfuhr, dass es anderen ähnlich ergeht, es half ihr, verstanden zu werden und nicht verurteilt oder zensiert.

Die Resignation produktiv machen: „Ich möchte heute weniger reden!“ – Die Schüler aktiv sein lassen

In der nächsten Gruppensitzung berichtete Frau K., sie habe nach unserem Gespräch versucht, etwas zu ändern. Sie begann die nächste Erdkundestunde so: „Ich möchte Euch etwas sagen. Ich bin unzufrieden mit den Stunden, vor allem damit, dass ich so viel rede und ihr nicht aufmerkt.“ Sie erläuterte den Schülern ihr Unbehagen, ohne die Klasse zu beschuldigen und kündigt an: „Ich brauche eure Hilfe, um den Unterricht erfreulicher zu machen und so, dass Ihr etwas lernt. Das möchte ich mit Euch bereden; Ihr könnt für die nächste Stunde überlegen, wie es Euch in den Stunden geht. Heute aber möchte ich weniger sprechen.“ Die Schüler überraschte diese Vorrede und die Lehrerin begann: „Ich kündigte Euch ,Großbritannien’ als neues Thema an: Was wisst Ihr bereits darüber – aus Büchern, Fernsehen, Zeitung, Internet? Bitte notiert Stichwörter von dem, was Euch einfällt; nach fünf Minuten sammeln wir Euer Wissen.“

„Ich war so misstrauisch“, sagte die Lehrerin, „ob die überhaupt etwas tun. Aber tatsächlich: Die Schüler schrieben bereitwillig Notizen auf und brachten nach dieser Stillarbeit viele Einfälle: von der Welt bestem Fußballer, der Königin, einem Aufenthalt in London, Großbritanniens Haltung im Irak-Krieg. Ich zeigte mich erfreut über die Ergebnisse und fuhr fort: ,Ich sagte Euch, ich möchte nicht mehr so viel reden. Nehmt jetzt den Atlas und das Erdkundebuch zur Hand und versucht in den nächsten fünfzehn Minuten mit Hilfe des Textes, der Fotos und der Landkarte Neues über Großbritannien zu erfahren. Ihr könnt allein oder mit dem Nachbarn zusammen arbeiten.

Frau K. merkte, wie sie im Wortunterricht verhaftet war. Es hätte sie nicht überraschen müssen, dass die Jugendlichen arbeiteten: sie konnten selbst etwas tun. Der veränderte Unterricht hatte Folgen. Schüler und Lehrerin erkannten, dass sie üben mussten, wie man sich aus dem Atlas informiert, wie man im Buch sinn-entnehmend liest, wie man Wesentliches markiert, in Stichwörtern fest hält, wie man ein Bild betrachtet und daraus Informationen entnimmt, wie man Quellen für erdkundliches Wissen findet: Sie mussten lernen, wie man Erdkunde lernt.

Gemeinsam den Unterricht verändern – Aus der Mechanik des Gewohnten heraustreten – Mehrfach-Information

Frau K. regte in Kurzgesprächen die Schülerinnen und Schüler an, Kritik und Wünsche zu äußern, Ideen zu sammeln, Vorschläge zu machen. Die Schüler erkannten: Wir sind mitverantwortlich. Sie konnten nicht mehr der Lehrerin die Probleme zuschieben.

Die Lehrerin fragte sich anfangs: Wie komme ich aus der Unterlegenheit wieder in die Überlegenheit? Das führte zum Machtkampf, der sie anstrengte und den sie zu verlieren drohte. Der andere Weg war, Verständigung zu suchen. Dazu gehörte, dass die Lehrerin sich selbst ernst nahm, sich begreifen ließ und die Vorschläge der Schüler aufgriff. Ohne dass ihr das bewusst war, verwirklichte Frau K. in ihrem neuen Denken eine didaktische Regel, welche die gestörte Arbeitsdisziplin verbesserte. Sie begab sich nämlich mit ihrem Wunsch, den Rede-Unterricht zu beenden auf den Weg zum lernpsychologischen Prinzip der Mehrfach-Information. Das besagt: mit möglichst vielen Sinnen und unterschiedlichen geistigen Tätigkeiten zu lernen. Es erleichtert den Schülern, neues Wissen sicherer zu verknüpfen, wenn sie nicht nur begrifflich lernen, sondern mehrere Sinnesorgane und Lerntätigkeiten einbeziehen: etwas anfassen, beobachten, nachschlagen, hören, sehen, mit dem Partner überlegen, lesen, vertieft allein arbeiten, skizzieren, schreiben, erklären, argumentieren, fragen, erfinden. Die Lehrerin ermöglichte es, die Sachverhalte über mehrere Eingangskanäle aufzunehmen. Dadurch wird das neue Wissen und Können be-griffen und nachhaltig eingeprägt.

Diese Arbeitsweise mit der Mehrfach-Information fördert zugleich die gesunde Aggression: Zupacken, aktiv sein, sich auseinander setzen, mit dem Stoff „ringen“, eigene Kräfte entwickeln. Und je mehr gesunde Aggression die Schüler leben können, umso weniger kann sich destruktive Aggression im Unterricht entwickeln.

Ausgegangen bin ich von Frau K.s Lehrerinnen-Schüler-Konflikt, der so bearbeitet wurde:

Frau K. vertraute sich mit ihren Schwierigkeiten einer Lehrergruppe an.
Ihr Problem war: „Ich bin nicht die Lehrerin, die ich sein möchte“, sie haderte mit ihrer Lehrerinnen-Identität.
Die Gruppe half ihr, die Resignation anzusehen und aus der Mechanik des Gewohnten heraus zu treten.
Die Lehrerin wagte einen Neuanfang.
Sie bezog die Schülerinnen und Schüler in den Veränderungsprozess ein, ließ sie mitarbeiten und mitbestimmen.
Sie gestand sich ein: Ich bin von den Schülern abhängig, nicht nur die von mir, also muss ich sie für mein Vorhaben gewinnen.
Sie nahm die Fäden nicht mehr allein in die Hand, sondern gab Verantwortung an die Schüler ab.
Die Jugendlichen nahmen das Angebot an und gingen mit ihr den Weg vom Rede- und Zuhörunterricht zum Arbeitsunterricht.

Der Lehrerin half in diesem Prozess vielleicht Erich Frieds „Zusätzliche Bedingung“:

Zusätzliche Bedingung
Wichtig
ist nicht nur
dass ein Mensch
das Richtige
denkt

sondern auch
dass der
der das Richtige
denkt
ein Mensch ist

Partnergespräch: Persönliche Überlegungen

Ich wünschte, ich könnte Sie anregen, durch Selbstbesinnung Ihren Weg zu klären, ihn vielleicht zu überdenken, da und dort neu zu bestimmen. Was sind Ihre persönlichen Berührungspunkte zum Thema „Lehrer-Schüler-Konflikte miteinander regeln“?

  • Tauschen Sie sich mit Kolleginnen und Kollegen darüber aus, was Sie an der täglichen Schularbeit bewegt? Erzählen Sie weiter, was Ihnen in Unterrichtsstunden Freude macht, was Sie neu erfunden haben, welche Schwierigkeiten sie überwinden möchten?

  • Wird im Kollegium nur darüber geklagt, wie schwierig die Schüler, die Klassen, die Vorschriften, die Umstände, die Vorgesetzten sind? Oder gehen Sie auch wieder weg von der Klagemauer, um zu überlegen, wie Sie sich unterstützen können?

  • Wie sehen Sie in Ihrem Unterricht den Zusammenhang zwischen Unterrichtsmethode und Unterrichtsdisziplin?

  • Könnten Sie sich vorstellen, um gute Disziplin zu fördern, Ihre Stunden mehr zu strukturieren – im Sinne der Mehrfach-Information, aber auch, um nicht immer alle Fäden selbst in die Hand nehmen zu müssen?

Schüler und Lehrer üben Kritik und Selbstkritik zum Unterricht

Lehrerinnen und Lehrer können die Beziehung zu den Schülern klären, wenn sie sich sagen oder schreiben lassen, wie die Jugendlichen den Unterricht und das Lehrerverhalten und ihr eigenes Benehmen einschätzen. Das unterstützt die Selbstbesinnung des Lehrers, aber auch die Selbstkritik der Schüler.

  • Da ist ein Geschichtslehrer, der verteilt alle paar Monate an jeden Schüler drei Kärtchen: ein rotes, auf das sie negative Kritik schreiben, ein grünes für positive Kritik und ein gelbes für Selbstkritik der Schüler. Darüber sprechen sie miteinander.

  • In einer Realschule gibt es eine „Wir-über-uns-Stunde“. Das Kollegium legt in jeder Woche eine andere Stunde fest, in der Schüler mit dem Lehrer, der gerade in der Klasse ist, ein Gespräch über die Schulzufriedenheit führen.

  • Eine Ethiklehrerin regt alle sechs Wochen ein freies Gespräch an über – so nennt sie es – „das gute Leben im Unterricht“.

  • Ein Lehrer setzt einen Fragebogen ein. Mit dessen Hilfe diskutieren Schüler und Lehrer über Klassenklima, Lernerfolge, Ängste, Wünsche.

  • Ein Englischlehrer führt eine feste Schülersprechstunde ein. Die Jugendlichen können mit ihm besprechen, was sie bewegt, was sie wissen möchten.

  • Ein Mathematiklehrer lässt die Schüler halbjährlich in Kleingruppenarbeit eine Unterrichtskritik schreiben und diskutiert diese mit den Schülern. Er selbst legt auch eine Kritik vor.

  • Ein Deutschlehrer macht Probleme des Zusammenlebens zum Aufsatzthema.

  • Eine Lehrerin hat mit den Schülern vereinbart, Gespräche über Disziplinprobleme nicht zu beenden, ohne ein Arbeitsbündnis: einen Pakt, in dem beide Seiten festlegen, wie sie sich verhalten wollen, damit gut gelernt werden kann.

Es geht um existenzielle Fragen für Lehrer und Schüler: Freust du dich auf den nächsten Schultag? Hast du Angst vor einem Lehrer? Geht die Lehrerin freundlich mit dir um? Behandelst du den Lehrer freundlich? Findest du den Unterricht interessant? Interessierst du dich für den Lernstoff? Schenkt dir der Lehrer ab und zu ein persönliches Wort? Sagst du dem Lehrer, wenn dir der Unterricht gefällt? Merkst du im Unterricht gut auf? Kannst du sicher sein, nur dann aufgerufen zu werden, wenn du dich meldest? Hast du Vorschläge, wie du den Unterricht verbessern kannst? Was würdest du dir am meisten von der Lehrerin wünschen, damit du im Unterricht gut lernen kannst? – Aus dem, was Jugendliche auf solche und ähnliche Fragen antworten, können Lehrer viel „Unterrichtslehre“ lernen; denn Schüler haben eine reichhaltige Erfahrung darin, wie sie den Unterricht erleben und wie er sein könnte. Das kann unsere pädagogische Eigen-Bewegung erhalten und unsere konstruktive Selbstkritik.

Verletzlichkeit: Die eigene Verletzlichkeit annehmen: Mögen mich die Schüler? – „Hülle aus Härte und Stärke, oder Sensibilität“?

„Mag mich die Lehrerin“ fragt sich der Schüler. „Mögen mich die Schüler?“ fragt sich der Lehrer. Diese Frage bedrückte Frau K.. Zögernd vertraute sie sich der Lehrer-Gruppe an. „Mich deprimiert das Gefühl, die Kinder mögen mich nicht.“ Sie fing an zu weinen. „Ich wäre auch gern von den Schülern geschätzt, so wie meine Kollegin. Zu der schauen die Mädchen auf, um die scharen sie sich in der Pause, mit der sind sie fröhlich. Ich merke, die haben ein gutes Verhältnis.“

Die Lehrerin riskierte den Kummer, den sie durch ihre Selbstwahrnehmung spürte. Wir bearbeiteten in der Gruppe, wie sie ihre Traurigkeit produktiv machen könnte: indem sie ihr Eigensein entdeckt, ihren Lebenswunsch nach einer freundlichen Beziehung zu Kindern akzeptiert. Sie kann nicht sein wie die Kollegin, aber sie kann auf ihre Weise eine freundliche Beziehung zu den Schülern anstreben. Das geht nicht von heute auf morgen, sondern ist eine Entwicklung, die die Kollegin mit Hilfe der Gruppe versuchen wollte. Bisher spürte sie nur Neid, der sie verbitterte. Jetzt brach die Trauer über sie herein. Der seelische Schmerz weckte verloren gegangene Lebendigkeit.

Verloren gegangene Empfindsamkeit beobachten wir bei Lehrern, die sich panzern und dann nichts mehr spüren – von sich, von Kindern und von Sachen. Sie wagen nicht, sich auch in den verleugneten Persönlichkeitsaspekten wahrzunehmen. Zu dieser Wahrnehmung ermutigte ich die Lehrerin. Dazu musste sie ihre liebens-würdigen Seiten entdecken und die abgelehnten in ihre Person einbeziehen, statt abzuspalten. Die Frage war nicht „Was tue ich wenn ...?“ Sondern: „Wer bin ich? Und wie möchte ich sein?“ „Komme ich an mich selbst heran?“ „Kann ich ausdrücken, was mir Freude macht?“ Es ist die Frage nach der eigenen Identität. Christa Wolf meint: „Ich bin stark geworden dadurch, dass ich Weichheit zugelassen habe.“ (1)

Manche sich Lehrerinnen und Lehrer bauen sich eine Hülle aus Stärke und Härte auf, um sich unangreifbar zu machen. Aber das ist nur scheinbare Stärke, die sie anstrengt, sich selbst entfremdet und ihre Eigen-Bewegung hemmt. Wer angreifbar ist, erschütterbar – es heißt dann leicht: „der ist zu sensibel“ -, ist seelisch wie körperlich gesünder als der Gepanzerte. Manche Lehrerin ist stark geworden, indem sie Weichheit zugelassen hat.

Panzerung macht starr – Die eigene Verletzlichkeit annehmen

Ein Lehrer meinte in der Supervisionsgruppe: „Mich von den Schülern einschätzen lassen, das pack ich nicht. Ich weiß, es wäre sinnvoll, sie zu fragen, ob sie gern in meine Physikstunde kommen, ob sie sich gut behandelt fühlen, ob ich ihnen genug helfe beim Lernen. Aber ich habe Angst vor der Aggressivität mancher Schüler, die meine Person entwerten.“ – „Das verstehe ich gut, auch aus eigener Erfahrung“, sage ich; „denn es kommt bei solchen Befragungen zu ungerechten Kränkungen; wenn Schüler Aggressionen ausleben, Gemeinheiten, die womöglich gar nicht Ihnen gelten. Aber wenn Sie die Kränkung wagen, kann sie auch produktiv werden, schließlich ist es ihre seelische Empfindsamkeit. Und Sie erfahren auch Zustimmung, von der Sie sonst nichts merken dürfen.“

In der Tat kann manche Kritik die Lehrerpersönlichkeit im Kern treffen, wenn es um Zuneigung oder Ablehnung geht, darum ob Schüler den Lehrer achten. Denn jeder Mensch bedarf der Zustimmung, von ihr hängt die Selbstachtung ab. Umgekehrt fragt sich der Lehrer: Mag ich die Schüler, lasse ich mich gern mit ihnen ein? Wie behandle ich Jugendliche, die mir unsympathisch sind? Wer sich gegen diese Selbstwahrnehmung panzert, wird starr. Er spürt nichts mehr von sich, von Kindern, von Sachen. Zur Frage „Wer bin ich und wie möchte ich sein?“ gehört auch, sich mit seiner verwundbaren Stelle zu befassen und die eigene Verletzlichkeit anzunehmen. Dazu gehörte, sich mit ihrer verwundbaren Stelle zu befassen. Christa Wolf schreibt über die Unverwundbarkeit im Siegfried-Mythos:

Der deutsche Mythos von Siegfried, dem Helden, der den Lindwurm tötet und sich mit dessen Blut bestreicht, das ihn unverwundbar macht, bis auf die eine Stelle seines Körpers, die er nicht erreicht, den Fleck zwischen den Schulterblättern, wo der Speer ihn dann durchbohrt, dieser Mythos sollte uns lehren: Immer gibt es eine Stelle, an der wir verwundbar sind, es ist unsere lebendige, menschliche Stelle; wenn wir auch die verschließen, hören wir auf zu atmen und sind tot.

Ordnung im Schulalltag – Schüler brauchen strukturierende Hilfen für eine gute Arbeitsdisziplin

Um Disziplinschwierigkeiten vorzubeugen und sie gut regeln zu können, muss ich mich immer wieder selbst in Ordnung bringen und brauche Ordnung. Ordnung führt zu innerer Sammlung: Ordnung des täglichen Tuns im Unterricht, der Dinge im Klassenzimmer, der Tätigkeiten im Lauf des Schultags. In Lehrer-Supervisionsgruppen erlebe ich: Lehrer mahnen zur Ordnung, aber nehmen sich zu wenig Zeit, Ordnung einzuüben.

Einüben, die Zeichen zu befolgen, zum Beispiel den Gong zum Beginn des Unterrichts. Es gibt nur dieses Zeichen, nicht noch ein Klatschen oder Rufen. Einüben, wie bei der Einzelarbeit absolute Stille im Klassenzimmer angezeigt ist, die Stille beim selbstständigen Lesen etwa; einüben, wie der äußere Rahmen bei der Partnerarbeit sein muss, damit Mitschüler nicht gestört werden, Einüben, wie wir uns im Kreis ohne Rempelei zusammensetzen. Einüben der Gesprächsregeln, damit wir gut diskutieren können. Besprechen und einüben, wie jeder seine Ordnung in die Arbeitsmaterialien bringt, zum Beispiel wie er Arbeitsmappen eine gute Gestalt geben kann. Statt diszipliniert zu werden, sollen Schüler Disziplin lernen.

Es geht um Ordnungsformen unter ethischer Problemstellung: Aufeinander Rücksicht nehmen, einander helfen, sich selbst „zusammen nehmen“, Achtsamkeit, Freundlichkeit, Höflichkeit. Lehrer sollten die von ihnen aufgestellten Normen vorleben, nicht nur aus pädagogischem Imperativ des guten Beispiels heraus, sondern: weil wir uns damit selbst ordnen und stärken.

Vereinbaren, statt anordnen

Ich-stärkend ist die Ordnung, wenn sie nicht nur auf An-Ordnung von Lehrern geschieht, sondern wenn sie auf Vereinbarung gründet: Vereinbaren statt anordnen geht. „Ich kann bei dieser Unruhe keinen Unterricht halten und Ihr könnt dabei nichts lernen, die Situation möchte ich beenden, darüber spreche ich mit Euch“, so konfrontiert eine Lehrerin die Schüler. Die Jugendlichen können Ihre Sicht vorbringen, ihre Unzufriedenheit, ihren Standpunkt. Aus dem Aufzeigen des Ist-Zustandes erwächst die Aufgabe: Wie können wir die unbefriedigende Situation miteinander verändern? Beide Seiten bringen Vorschläge, aus denen werden Vereinbarungen – gemeinsam formuliert, von allen niedergeschrieben. Diese Vereinbarung erproben wir, üben sie ein. Manche Lehrer schließen Verhaltensverträge mit der Klasse oder mit einzelnen Schülern ab, ich habe es immer „pädagogisches Arbeitsbündnis“ genannt. Wir brauchen ein Bündnis, um miteinander lernen zu können.

Wenn wir vereinbaren statt anordnen, werden Regeln nicht nur Fremdverpflichtung, die der Lehrer mit Macht durchsetzt, sondern Selbstverpflichtung, die die Jugendlichen motiviert, zur Unterrichtsordnung beizutragen. Das Vereinbarte wird aufmerksam zu beobachtet und das Gelungene bekräftigt. Das stärkt den Selbstwert der Schüler und des Lehrers. Sie machen etwas nicht nur aus Zwang heraus, sondern aus der Einstellung der Selbstdisziplin.

Ein freundlicher Tagesanfang als „Vorgabe“ – Die soziale Anwärmzeit vor dem Unterricht

Gute Ordnungen geben „Halt“, den Schülern und dem Lehrer. Von der Art des Tagesanfangs oder Stundenbeginns zum Beispiel hängt auch ab, wie Klasse und Lehrer in den Unterricht hinein kommen. Ich bringe ein Beispiel aus meiner eigenen Lehrerzeit. Da machte ich zur unabdingbaren Ordnung, auch meiner inneren Ordnung, die morgendliche Vorviertelstunde. In diesen 15 Minuten ließ ich mich durch nichts stören, durch keine Eltern, Kollegen, keinen Schulleiter. Ich war im Klassenzimmer, begrüßte die Schüler, wechselte mit ihnen – wenn sie wollten – ein paar Worte, sie konnten sich im Klassenzimmer Anschauungsmittel betrachten, in der Klassenbücherei schmökern, sich auf den Unterricht vorbereiten, in Gruppen unterhalten, mit einer selbst gewählten Arbeit beginnen, für die Pflanzen im Zimmer sorgen. Ich ging auf Schüler zu, ohne mich aufzudrängen, und sie konnten auf mich zugehen. Ich tat das aus dem Wunsch heraus, Kinder kennen zu lernen, und mich selbst erkennen zu lassen. Und ich brauchte den Kontakt, um die Angst vor einer „Masse“ so vieler Kinder zu mildern. Damals lag die Klassenstärke selten unter 50. Durch die feste Ordnung der Vorviertelstunde milderte ich Fremdheit und Ängste bei mir und den Schülern.

Ich war einfach „da“ und entdeckte bei manchen Schülern ein anderes Gesicht. Im wörtlichen Sinn; denn unmittelbar von Angesicht zu Angesichts sieht das Kind anders aus als im Block sitzend. Ich sehe, dass es Sommersprossen hat, nehme im Augenkontakt seinen lebendigen oder schüchternen Blick wahr. Mit dem ,anderen Gesicht’ meine ich auch ,andere Seiten’ der Jugendlichen. Da ist ein Schüler Spezialist in Radio-Technik, ein anderer spielt Theater, ein Mädchen erzählt von einer Initiative, von einer anderen erfahre ich ihre Lieblingssängerin. Da sehe ich einen mir unsympathischen Jungen, ich kann ihn nicht mögen, aber ich kann ihm etwas Gutes tun, zum Beispiel ihm eine Freundlichkeit erweisen. Diese „Nebenbei-Kontakte“ waren für mich hilfreich. Ich hatte Gelegenheit, vor der Stunde auch mit den Schwierigen zu reden, ohne sie zu belehren. Aber ich habe erfahren, dass diese „Schwierigen“ weniger schwierig waren, wenn ich mit ihnen bereits vor der Stunde „in Beziehung“ stand: denn Bekanntschaft ist der Feind der Feindschaft. Da kehrte Ruhe und Freundlichkeit in mir ein – und in den Kindern. Die Schüler wussten für jeden Tag des Jahres: in dieser Zeit bin ich da. Und Sie erlebten, dass sie von mir gesehen werden, dass sie für mich eine Rolle spielten. Schließlich hing von ihnen mein gutes Leben ab.

Vor dieser sozialen Anwärmzeit hatte ich alle Vorbereitung auf den Unterricht abgeschlossen. Da hatte ich mich in Ordnung gebracht. Wenn ich in dieser Ordnung einen Ruhepunkt in der Klasse bildete, wirkte sich das auf die Schülerinnen und Schüler aus. Anders als wenn ich mich noch schnell im Kopierraum mit anderen drängeln muss, oder von einem unangenehmen Gespräch im Büro in die Klasse hetze, oder mich von einer Schülermutter aufhalten lasse. Nach dieser ruhigen Zeit begann der Unterricht mit der Besprechung des Lernplans: dessen, was wir heute oder in dieser Stunde lernen werden. Selbst wenn Lehrer nur eine Stunde in der Klasse sind, kann dieses Prinzip einer „Vorgabe“ hilfreich sein, und keine verlorene Zeit. Verlorene Zeit? Ich denke, mehr Langsamkeit, statt der verbreiteten Hetze, täte Schülern und Lehrern gut.

Günter Grass meint, wir bräuchten als Gegengift zur allgemein vorherrschenden Beschleunigung eine für den Unterricht taugliche Anweisung zur „Entdeckung der Langsamkeit“:

Ich schlage vor, in allen Schulen einen Kurs zur „Erlernung der Langsamkeit“ einzuführen. Von mir aus darf es ein Leistungskurs sein. Langsamkeit wäre eine Gangart, die der Zeit zuwider verliefe. Die bewusste Verzögerung ... Das Erlernen des Innehaltens, der Muße. Nichts wäre in der gegenwärtigen Informationsflut hilfreicher als eine Hinführung der Schüler zur Besinnung ohne lärmende Nebengeräusche, ohne schnelle Bildabfolge, ohne Aktion, und hinein ins Abenteuer der Stille ... Ich weiß: ein Vorschlag, den zu realisieren zwangsläufig die Zeit fehlen wird. Dennoch bitte ich Sie als Lehrer, ihn nicht zu belächeln, sondern ihn spielerisch ernst zu nehmen.

Partnergespräch: Was sind Ihre Berührungspunkte?

  • Spielerisch ernst nehmen? Vielleicht könnten Sie das auch mit dem einen oder anderen Gedanken, den ich Ihnen heute vortrage?

  • Lassen Sie sich von den Schülern in irgendeiner Ihnen gemäßen Form mitteilen, wie die den Unterricht erleben, was sie sich anders wünschen, um besser lernen zu können, und wo die Jugendlichen bereit und fähig sind, verantwortlich mitzuarbeiten.

  • Wie ist das für Sie mit den Kontakten zu Schülern, wenn Sie beispielsweise in einer Klasse sechs Stunden geben und in einer anderen nur eine Stunde? Wie geht es Ihnen da mit der Beziehung?

  • Wie gelingt es Ihnen, Ihrem Unterricht eine gute Gestalt zu geben, die Ihnen entspricht und den Schülern das Lernen erleichtert?

Das Problem der Lehrer-Macht – Machtausübung aus Hilflosigkeit

Bei Lehrer-Schüler-Konflikten spielt die Einstellung zur Macht eine Rolle. Mit einigen Überlegungen dazu möchte ich Sie fragen: Könnten Sie es sich vielleicht etwas leichter machen mit weniger Macht? Erziehungs-Macht ist notwendig, um eine Ordnung zu schaffen, die Schüler mit Erfolg lernen lässt, eine Ordnung, die Lehrern ermöglicht, gut zu lehren. Der dazu unentbehrliche Gehorsam der Kinder soll zunehmend zu einsichtigem und selbstbestimmtem Gehorsam führen, Disziplin zur Selbstdisziplin werden. Die Erziehungs-Macht entartet zu absoluter Macht und zum Macht-Missbrauch, wenn Lehrer Jugendliche klein machen, ängstigen, auslachen, demütigen, ihnen Fähigkeiten absprechen, über ihre Bedürfnisse hinwegsehen, sie gefügig machen.

Ein Lehrer erklärt dem jungen Kollegen seine Einstellung: „Sie dürfen die Schüler nie die Oberhand gewinnen lassen, sonst werden Sie fertig gemacht. Deshalb fange ich streng an. Gleich am ersten Tag, an dem ich eine neue Klasse bekomme, zeige ich, wer Herr im Haus ist. Schwätzt ein Schüler, schaue ich ihn scharf an und sage: ,Du da hinten – ja, du genau! Halte gefälligst deinen Mund!’ Das wirkt auf die Klasse einschüchternd. Die Schüler mucken nicht mehr auf. Meist erteile ich schon in den ersten Tagen einen Verweis, das ernüchtert sie und sie parieren.“

Lehrer üben die Abschreckung oft nicht böswillig aus. Sie greifen zur Macht als Nothilfe, denn sie haben keine pädagogischen Mittel. In ihrer Ausbildung sind Sachen wichtiger als Menschen. Der Konflikt bearbeitende Umgang mit Schülern ist kein Thema.

Über den Lehrer selbst wird durch die Schulstruktur Macht ausgeübt: durch Unterrichtsgesetze und Erlasse, die ihn in seiner pädagogischen Freiheit einengen. Er muss vielfach gegen die Schüler arbeiten. Das bringt pädagogisch denkende Lehrer in Konflikt mit ihrem Lehrerbild. Denn die Folge ist Beziehungsverlust. Um den institutionell gestörten Kontakt auszuhalten, müssen ihm die Schüler gleichgültig werden. Andernfalls könnte er manche Anordnung nicht befolgen.

Ein Lehrer stellt das Machtprinzip bei der geforderten „Normalverteilung“ der Noten in Frage

In diesem Dilemma sah sich Herr Frey. Er sollte an seiner Schule Noten nach der Normalverteilung vergeben und dachte über die Sortierung nach: „Wie ist das bei mir? Wenn Einser und Zweier überwiegen, eine geringe Anzahl Dreier die Mitte ausmacht, und dem nur einige Vierer und Fünfer gegenüber stehen, bin ich da froh um die Fünfer und Vierer? Ehrlich gesagt: Ein wenig froh bin ich. Denn ich muss den Notendurchschnitt eintragen, und der ,Schnitt’ darf nicht zu gut sein. Es muss auch Schlechte geben, heißt es.“

Der Lehrer muss Schlechte herstellen? Noten so zu vergeben, ist nicht normal. Das Zufallsgesetz gilt nicht für den Unterricht, denn der ist kein Zufalls-Geschehen. Schon gar nicht stimmt die Gauß’sche Glockenkurve für zwanzig Kinder, sie gilt für Zehntausende und keinesfalls für eine geistige Leistung. Weshalb genieren sich intelligente Menschen nicht, sich ein so widersinniges Handeln vorschreiben zu lassen? Sie müssen ihren Verstand ausschalten, um blind zu gehorchen. Das erinnert an die Mitteilung der Expertin für Bio-Ethik, Christine von Weizsäcker. Sie schreibt von der bedrückenden Vorstellung, das Experiment eines Neurophysiologen könnte sich auch für die menschliche Gesellschaft als gültig erweisen: dass wir „hirn-amputierten“ Befehlsgebern folgen.

Der Forscher experimentierte mit dem Nervensystem. Dazu untersuchte er das Schwarmverhalten von Fischen. Er nahm aus einem Fischschwarm einen Fisch und unterbrach in ihm die Verbindung des Körpers zum Großhirn. Der Forscher wollte sehen, ob der gehirn-amputierte Fisch sich im Schwarm halten kann. Was geschah? Dieser Fisch war frei von Mitwelt-Wahrnehmung, ohne Rücksicht und Vorsicht. Er schwamm ungebremst ziellos im schnellen Zickzack umher – und: der ganze Schwarm folgte ihm! Sein unvernünftiges Verhalten machte, so könnte man denken, auf den Schwarm den Eindruck, er wisse, wo’s lang geht ... Wenn ich mir unsere Gesellschaft anschaue, kommt mir immer häufiger der Verdacht, die Mehrheit folgt denen mit amputierter eingeschränkter Wahrnehmung.

Sozialer Ungehorsam gegen bürokratische Unvernunft

Lehrer Frey wollte nicht folgen. Er arbeitete mit seiner Klasse am Projekt „Unser Wald“ und begeisterte die Schüler für naturkundliches Denken. Auf Unterrichtsgängen beobachteten sie Tiere, mikroskopierten, wählten in Gruppen Themen wie „Der Ameisenstaat“, „Die Vögel des Waldes“, „Das Waldsterben“. Die Jugendlichen sprachen mit Fachleuten; sie unternahmen mit dem Förster einen Waldgang. Am Ende des Projekts dachten sich Lehrer und Schüler gemeinsam Prüfungsfragen aus. Der Lehrer fragte nicht nur nach dem Grundwissen, sondern stellte auch offene Aufgaben. In denen konnten die Schüler zeigen, was sie persönlich als „Spezialisten“ gelernt haben. Bei diesem Projekt kam es zu keinen Disziplinschwierigkeiten, so intensiv arbeiteten die Schüler.

Lernpsychologischerweise schrieben die Jugendlichen kenntnisreiche Arbeiten und freuten sich über ihren Wissenszuwachs. Der Lehrer musste sich jedoch wegen der guten Schülerleistung rechtfertigen: der Notendurchschnitt sei zu gut, er müsse die Zensuren drücken. Herr Frey wollte das seinen motivierten Schülern und sich selbst nicht antun. Aber es ängstige ihn, im Kollegium aus der Reihe zu tanzen. So deformiert ist das Denken durch das Machtprinzip und durch ein unpädagogisches Leistungsverständnis: niemand freute sich über das Können der Jugendlichen und interessierte sich dafür, wie es zustande kam.

Herr Frey machte sich sachkundig und referierte in der Konferenz über das pädagogische Unrecht, das den Schülern widerfährt. Er war ungehorsam gegenüber einer Verordnung, die weder in der Schulordnung, noch im Unterrichtsgesetz steht. Er regte das Kollegium zum Denken an, mit dem Ergebnis: Auch andere wollten nicht mehr vorschriften-hörig am verordneten Klassendurchschnitt festhalten. Ohne sozialen Ungehorsam gibt es keinen Fortschritt, auch nicht in der Schulpädagogik. Der zivilcouragierte Lehrer widerstand der Gefahr, die Christa Wolf so ausdrückt: „Wer sich in einer verkehrten Welt einrichtet, wird selbst verkehrt.“

Der hohe Preis der Macht: Die „Krankheit der Macht“ – Vom Machtprinzip zum Sympathieprinzip

Diese „Verkehrtheit“ kann zur „Krankheit der Macht“ führen. „Wer Macht ausüben will, muss wissen“, schreibt der Psychoanalytiker Mario Erdheim, dass er sich auf etwas einlässt, das ihn früher oder später selbst traumatisiert“, ihn selbst beschädigt. Wer an der Macht ist, „darf nicht merken, dass er traumatisiert wird. „Er darf nicht merken, dass er an diesem Ort etwas erlebt, das ihn zutiefst verletzt, etwa durch den Abzug der Liebe aus der Welt, und dass er das weitergeben muss.“ Was ihn seelisch schädigt, ist die der Macht innewohnende Gleichgültigkeit und Rücksichtslosigkeit.

Macht behauptende Lehrer, wie solche, die pädagogisch unterrichten wollen, spüren etwas vom „Traumatisierenden an der Macht“; es sei denn sie verleugnen oder verdrängen es und werden womöglich krank, früh berufsunfähig, lassen sich vorzeitig pensionieren. Der Zusammenhang zum Selbst-Schädigenden der Macht wird wenig gesehen. Ich möchte Sie an einigen Aspekten auf den hohen Preis der Macht hinweisen. Ich stelle am Ende jeweils behutsam eine Frage zur Linderung: ob Sie nicht dort, wo Sie sich angesprochen fühlen, ein Stück vom Machtprinzip zum Sympathieprinzip hinrücken könnten, je nachdem, wo Sie stehen in dem Vermischt-Sein von Machtprinzip und Sympathieprinzip.

  • Machtprinzip: Der Lehrer muss immer alle Fäden in der Hand haben, alles tun, um die Aufmerksamkeit auf sich zu richten. Vorwiegende Methode ist der „gelenkte Unterricht“: Der Lehrer muss fortwährend lenken, das strengt an. – Frage: Könnten Sie – sich zu Liebe – versuchen, mehr zu „lassen“, die Schüler verantwortlich „mitlenken“ lassen, zum Beispiel durch mehr Selbsttätigkeit?

  • Machtprinzip: Der Lehrer ist verpflichtet, gegen das Widerstreben der Schüler den Lehrplan durchzusetzen. Oft ist er selbst nicht von dessen Sinn überzeugt. Das Widerstreben gegen das Desinteresse der Jugendlichen zu überwinden, raubt ihm Kräfte. – Sympathieprinzip: Könnten Sie es sich und den Schüler leichter machen, indem Sie mutig überflüssigen Stoff weglassen und den Unterricht stärker an die Interessen der Schüler anknüpfen?

  • Machtprinzip: Im frontalen Wortunterricht müssen Lehrerinnen und Lehrer die Jugendlichen zum Zuhören zwingen: ein Verhalten verlangen, das gegen die Natur der Kinder verstößt, etwa stundenlang still zu sitzen. Er darf muss viel und laut sprechen, das kann ihn erschöpfen. – Pädagogisches Prinzip: Wäre es denkbar für Sie, wenigstens einmal in der Stunde eine Partnerarbeit einzufügen? „Probiert jetzt zu zweit, ob Ihr dieses Problem lösen könnt.“

  • Der Macht behauptende Lehrer fühlt sich von schwierigen Schülern umstellt. Er gerät in Gefahr, ständig gegen das „Feindbild Schüler“ auf der Hut zu sein. Deshalb muss er seine Macht stabilisieren: durch Strafen. Er muss der Verfolgung vorbauen, die in seinem Erleben von den störenden Schülern ausgeht und die Jugendlichen klein halten. Das wird. – Sympathieprinzip: Könnten Sie überlegen, wie Sie durch mehr Kontakt mit den Schülern Ihr Feindbild-Denken abbauen – ebenso das „Feindbild Lehrer“ der Schüler?

  • Er darf keine Rücksicht nehmen und muss gegen einen Teil der Schüler rücksichtslos vorgehen. Auch wenn er kein rücksichtsloser Mensch ist, zwingen ihn die Machtstrukturen der Schule, Schüler zu überfordern, zu zensieren, durchfallen zu lassen, zu kränken, sie zu ängstigen, früh auszusondern, täglich zu bewerteten Menschen zu machen. Er muss das Pensum erfüllen und dabei Schwache in eine hilflose Lage bringen. – Könnten Sie das in diesem Schulsystem Mögliche tun, um Kindern Angst zu nehmen, und sei es nur, dass Sie das mündliche Abfragen nicht unangekündigt und überraschend durchführen? Oder dass Sie sich mit allen guten pädagogischen Gründen gegen einen vorgeschriebenen Notendurchschnitt wehren?

  • Macht behauptende Lehrerinnen können von Kindern keine Sympathie erwarten. Dieser Verzicht, von Schülern gemocht zu werden, ist eine Kränkung, selbst wenn sie verleugnet wird. Sie müssen ihrerseits gegenüber den Schülern emotional gleichgültig sein, um ihnen die verordneten Kränkungen anzutun. – Könnten Sie sich dieser Härte entziehen, indem Sie von sich aus versuchen, mit den Schülern eine zugewandte, verständnisvolle Beziehung zu wagen, die auch Ihnen gut tut?

  • Der Lehrer muss fortwährend kontrollieren, testen, prüfen, ausfragen, abfragen, Aufgaben überprüfen, Anwesenheit feststellen. Diese Kontrolle ist ihm aufgetragen, sie ist Teil der Macht, bleibt aber als Machtausübung oft unerkannt, denn Kontrolle zählt zur Normalität des Schulalltags. – Könnten Sie diese Kontrollen lernpsychologisch sanfter durchführen, sodass die Schüler nicht in eine lernstörende Drucksituation kommen?

  • Lehrer selbst bekommen die Macht der Kontrolle zu spüren, zum Beispiel durch Visitationen, „Schulbesuch“ genannt, die in manchen Schulen unangekündigt erfolgen – als müssten Lehrer bei etwas Unrechtem ertappt werden? – Könnten Sie den vorgesetzten Kollegen bitten, er möge sich zum „Besuch“ anmelden, damit Sie sich nicht so unter Druck setzen müssen?

  • Der Macht behauptende Lehrer muss daran arbeiten, seine Macht auszubauen. Dazu ist vorbeugende Strenge vonnöten, sie soll den gefürchteten Machtverlust verhindern. Mit jedem Machtzuwachs muss sich der Lehrer noch mehr gegen Verletzlichkeit schützen. Er muss mehr Strenge walten lassen, härter bestrafen, schärfer disziplinieren, er darf nichts durchgehen lassen. – Sympathieprinzip:

  • Die Gefahr, es könnte nicht gelingen, seine Macht zu behaupten, macht den Lehrer verletzlich; deshalb muss er seine Macht ausbauen: absolut konsequent sein, strenge Regeln aufstellen, keinen Widerspruch dulden. Das ist anstrengend. – Könnten Sie einen für Sie gangbaren Weg finden, Macht abzubauen, zum Beispiel dadurch, dass Sie die Schüler Kritik üben lassen, Sie selbst Ihre Kritik einbringen und darüber gemeinsam reden? Könnten Sie über all das mit aufgeschlossenen Kolleginnen und Kollegen sprechen? Könnten Sie sich vornehmen, in einer Stunde einmal nur auf das Geglückte zu schauen, und dies auch zu benennen?

Das menschliche Maß der Erziehungs-Macht durch das Sympathieprinzip – Schüler dabei „ertappen“, etwas zu können

Die Schule ist immer noch durchsetzt vom Machtprinzip: über die Schüler wird verfügt, ohne dass sie zustimmen können. Aus der lernstörenden Situation des Machtprinzips auszusteigen, gelingt nur, wenn Lehrer ihre Macht vermindern: durch ein menschliches Maß der notwendigen Erziehungs-Macht, durch die helfende Beziehung zu den Schülern, durch das Sympathieprinzip. Sympathie, die zugewandte gefühlsgeleitete Einstellung zu anderen Menschen: Fähig und bereit sein, spontan mitzufühlen, andere zu verstehen. Mit dem Sympathie-Impuls nehmen wir An-Teil: Wir teilen Freude und Kummer, Stärke und Schwäche. Was bedeutet das Sympathieprinzip in der von Schülern gefürchteten, vom Machtprinzip geleiteten Abfragens um der Benotung willen? Das erzwungene „Drankommen“ kann für Schüler peinlich sein, sie in Angst versetzen, Kinder in Misserfolg und Beschämung stürzen.

Ich fragte Lehrerinnen und Lehrer in Supervisions-Gruppen und Seminaren: „Wie fordern Sie die in manchen Bundesländern unterrichtsgesetzlich vorgeschriebenen ,mündlichen Leistungsnachweise’ ein, wenn sie ihre Schüler nicht plötzlich „drannehmen“ und erschrecken wollen?“ Aus der Fülle der Anregungen führe ich einige „sympathische“ Vorschläge auf:

„Ich lasse einzelne Schüler für den Beginn der Stunde eine kurze Zusammenfassung der vorhergehenden Stunde vorbereiten. Sie soll uns ermöglichen, an das heutige Thema anzuschließen.“

“Wir haben in der Klasse vereinbart: Ich rufe Schüler nur auf, wenn sie sich melden. Wir erörterten ausführlich die Gründe dafür und die Verantwortlichkeit der Schüler. Die Mitarbeit wurde nach dieser Vereinbarung lebendiger.“

„Ich lasse in jeder Sozialkundestunde einen Schüler über ein wichtiges politisches Ereignis des Vortags berichten, das für uns bedeutsam ist, aus Zeitung, Radio, Fernsehen oder Internet; oft sind es zum Beispiel Umweltprobleme.“

„Die Schüler melden sich für einen mündlichen Beitrag zur nächsten Stunde an.“

„Bei mir können die Kinder auch in der Partnergruppe etwas vortragen; es soll den Stoff ergänzen, den wir gerade durchnehmen. Sie bereiten ihren kurzen Beitrag gemeinsam vor und wechseln sich in der Darbietung ab.“

„Die Schüler sollen wissen, wann sie von mir drangenommen werden. Deshalb frage ich nach dem Alphabet ab.“

„Im Französischunterricht lasse ich die Schüler zu Hause Tonkassetten besprechen, damit ich ihre Aussprache höre. Da strengen sie sich sehr an und haben eine sinnvolle Übung. Ich höre mir die Kassetten zu Hause an und mache mir Notizen für die Verbesserung der Aussprache.“

„Im Deutschunterricht nutze ich viele Möglichkeiten. Die Schüler können eine Geschichte vorlesen, die sie selbst geschrieben haben, oder einen Kurztext, oder ihr Lieblingsgedicht vortragen, oder einen Tagebuch-Eintrag, oder ein eigenes Gedicht, oder eine Kostprobe aus ihrer bevorzugten Lektüre.“

„Bei mir machen die Schüler untereinander aus, wer einen ,mündlichen Leistungsnachweis’ bringt. Sie wählen einen verantwortlichen Schüler, der regelt mit ihnen, wer in der nächsten Erdkundestunde einen interessanten 5-Minuten-Beitrag vorträgt oder auch etwas vorzeigt.“

Die Fülle von Vorschlägen war davon geleitet, die Schüler nicht Macht behauptend gegen ihren Willen aufzurufen, sondern ihnen Angst zu ersparen und Lernerfolg zu ermöglichen. Eine Kollegin sagte: „Ich möchte die Schüler doch nicht reinlegen, sondern dabei ,ertappen’, dass sie etwas können.“ Allen ging es darum, die einschüchternde Kontrolle abzubauen zugunsten der pädagogischen Beziehung. In ihr hat das Lernen Vorrang, nicht das Prüfen. Diese Lehrerinnen und Lehrer opfern ihre pädagogische Freiheit nicht der „Pathologie der Normalität“ des Abfragens.

Partnergespräch: Was geht Sie an?

  • Kann es sein, dass Sie etwas von der „Krankheit der Macht“ spüren? In Ihrem Erleben – oder in Ihrem Körper? Merken Sie, wenn das Anstrengende des Berufs mit dem Machterhalt in der Klasse zusammenhängt?

  • Wie versuchen Sie, anstelle des Machtprinzips das Sympathieprinzip zu setzen: also die auf gegenseitige Einfühlung bedacht, die pädagogische Beziehung, den pädagogischen Takt?

  • Fühlen Sie sich im Kollegium akzeptiert, vielleicht sogar gut aufgehoben?

  • Wo würden Sie gern anders, nämlich pädagogisch, handeln, aber werden durch die Schulstrukturen daran gehindert?

Stärkt das Sympathieprinzip die Lehrer-Gesundheit? – Gesund erhaltende seelische Merkmale

Es wäre hilfreich, das in der Schule noch vorherrschende Machtprinzip im Zusammenhang mit den häufigen psychosomatischen Erkrankungen von Lehrern zu sehen – und umgekehrt zu fragen: Was macht eigentlich gesund? Bei psychologischen Untersuchungen und in der Psychotherapie zeigen sich Persönlichkeitsmerkmale, die nachweislich gesund erhalten. Ich nenne Ihnen sieben solcher seelischen Merkmale:

  • Die sichere Beziehung: Sich auf andere Menschen verlassen können, und diese als glaubwürdig erleben, ist eine gesund erhaltende und heilende Kraft. Personen, die sich „gut aufgehoben“ fühlen, werden seltener krank. Ein kooperatives, halt-gebendes Schulklima, speziell auch im Kollegium, wirkt sich günstig auf die Lehrer-Gesundheit aus, ebenso wie die Sympathie in der Beziehung von Schülern und Lehrern.

  • Selbstvertrauen und Mut: Das Bewusstsein, in Problemsituationen wirkungsvoll handeln zu können, erhält gesund und stärkt die körperliche Abwehr. Deshalb müssten Lehrerinnen und Lehrer besser für ihren Beruf fortgebildet werden, nämlich für den Umgang mit Menschen, für das Sich-Einlassen auf das gemeinsame Lernen und die Konfliktbearbeitung.

  • Heitere Grundstimmung: Freude erhöht die Widerstandskraft gegen Infektionskrankheiten. Hingegen machen Furcht, Entmutigung, Verzweiflung und Bedrückung anfällig für Ansteckung. Positiv gestimmte Menschen werden seltener krank als pessimistische. Deshalb ist es eine existenzielle Frage: Geh ich als Lehrerin gern in die Schule? Wie oft freue ich mich auf den nächsten Unterrichtstag?

  • Aktive Lebensgestaltung: Überzeugt sein, die Ereignisse des Lebens beeinflussen zu können, eigene Gestaltungsfähigkeit zu besitzen und nicht nur den Umständen ausgeliefert zu sein, stärkt Seele und Körper. Lehrerinnen und Lehrer, die mit Eigenes schaffen, eigene Ideen in ihren Schulalltag bringen, sich kompetent erleben im Unterrichten, im Lösen von Kollegen-Konflikten oder Problemen mit Schülern, stärken ihr seelisch-körperliches Wohlbefinden.

  • Das positive Selbstwertgefühl: Etwas gelten, Zustimmung erleben, als ganze Person akzeptiert werden, überzeugt sein, dass man etwas wert ist, trägt dazu bei, gesund zu bleiben. Lehrer, die nie ein anerkennendes Wort hören – von Vorgesetzten und Kollegen, von Eltern und Schülern, mögen sich vielleicht einreden, das bräuchten sie nicht. Aber womöglich zeigt sich die Kränkung im Kranksein.

  • Spontaneität und Eigen-Bewegung: Sich bewegen – körperlich, seelisch und geistig – ist nicht nur für Kinder ein existenzielles Bedürfnis. Nur wenn sich Menschen ausreichend bewegen und wenn sie Kreativität entwickeln dürfen, können sie körperliche Gesundheit und geistige Beweglichkeit entfalten.

  • Zuversicht und Hoffnung: Menschen mit zuversichtlicher Lebenseinstellung sind weniger krankheitsanfällig als solche, die nicht auf Lebensglück hoffen dürfen. Die Schule ist ein wichtiger Teil des Lehrer-Lebens. Auch Glück ist eine Erfahrung, die Lehrerinnen und Lehrer in ihrem Beruf machen können, das kann auch zum Glück für Kinder werden.

Lehrer-Sein, eine Sisyphus-Arbeit? – „Wir müssen uns Sisyphus als einen glücklichen Menschen vorstellen“

Dennoch: Lehrer-Sein, eine Sisyphus-Arbeit, aber vergeblich? Der von den Göttern bestrafte Sisyphus wälzt den Stein auf den steilen Berg, obwohl er weiß: Der Felsblock rollt zurück. Er sieht, wie der Stein in jene Tiefe rollt, aus der er ihn wieder auf den Gipfel wälzen muss. Aber, meint Albert Camus, Sisyphus behauptet trotzig, er sei glücklich mit seinem Stein. Können wir als Lehrer glückliche Steine-Wälzer sein? Ja, meint Camus. Das „macht aus dem Schicksal eine menschliche Angelegenheit, die unter Menschen geregelt werden muss. Darin besteht die verschwiegene Freude des Sisyphus. Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphus als einen glücklichen Menschen vorstellen.“

Also wälzen wir den Fels? Ich selbst sehe Sisyphus gern als meinen Schutzpatron: den Stein wälzen und Ja dazu sagen, auch wenn ich weiß: er bleibt nicht oben liegen. Und wäre es für fröhliche Steine-Wälzer nicht eine erschreckende Vorstellung, bliebe er eines Tages oben liegen? Dann könnten wir nicht immer wieder neu anfangen und uns wandeln – mit Bertolt Brecht: Alles wandelt sich

Alles wandelt sich

Alles wandelt sich. Neu beginnen
Kannst du mit dem letzten Atemzug.
Aber was geschehen, ist geschehen. Und das Wasser
Das du in den Wein gossest, kannst du
Nicht mehr heraus schütten
Was geschehen, ist geschehen, Das Wasser
Das du in den Wein gossest, kannst du
Nicht mehr heraus schütten, aber
Alles wandelt sich. Neu beginnen
Kannst du mit dem letzten Atemzug.

Ich wünsche Ihnen für Ihr Lehrer-Sein ein immer wieder neues Beginnen.

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1 In: Herlinde Koelbl: Im Schreiben zu Haus (19982) S. 242

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