
Prof. Dr. Kurt Singer - Leitgedanken
Mit Interesse lieber lernen und mehr leisten
Wie können Eltern, Lehrerinnen und Lehrer
Interesse wecken,
die Lernbereitschaft anregen und den Leistungswillen stärken?
1. Wie Schüler lieber lernen – Wissbegierde ist eine Grundlage
erfolgreichen Unterrichts
Kinder lernen bereitwillig und leisten mehr, wenn sie
-
mit Freude lernen und mit ihrer Arbeit zufrieden sein können
-
wenn sie aktiv lernen dürfen: selbst-tätig und
handelnd
-
wenn sie eigenständig und selbst-bestimmt arbeiten
können
-
das Gelernte unmittelbar anwenden dürfen
-
wenn das zu Lernende ihr Interesse weckt und sie das Lernen
als sinnvoll erleben können
-
wenn sie sich von Eltern und Lehrern anerkannt fühlen
-
ihr Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl gestützt
wird
-
wenn sie zu Lehrerinnen und Lehrern eine halt-gebende Beziehung
finden
-
mit den Mitschülern zusammenarbeiten und ihnen helfen
dürfen
-
etwas tun können, was von anderen gebraucht und geschätzt
wird
-
wenn sie in einer angstfreien und ermutigenden Lernsituation
lernen können
-
durch Lernerfolg ihre Hoffnung auf Erfolg gestärkt
wird
-
wenn Eltern und Lehrer positive Erwartungen in sie setzen,
aber sie nicht überfordern
-
wenn Kinder Kritik als hilfreich erleben; sie merken, dass
man sich um sie kümmert.
2. Die Lernfreude unterstützen – Freude am Lernen ist nicht
Nebensache: Weiter lernen wollen
Lernbereitschaft ist eine Voraussetzung des Lernerfolgs. Kinder, die
Lernbereitschaft entwickeln, arbeiten ausdauernder und leisten mehr. Lernerfolg
beflügelt die Schüler, Misserfolg bedrückt und macht lern-unlustig.
Es gehört zu den Aufgaben von Familie und Schule, allen Kindern Erfolg
zu ermöglichen. Zu den größten Lernhindernissen zählen
Angst und ausschließlicher Zwang. – Was in der Schule „durchgenommen”
wurde, ist zweitrangig gegenüber der Frage: Wächst in den Kindern
durch den Unterricht die Motivation zum Weiterlernen? Erwacht ihr
Interesse, etwas zu lernen? Tragen wir als Eltern zur Interessen-Entwicklung
bei?
3. Eltern können dem Leistungswillen wecken: durch interessierte
Anteilnahme und Anregung
Mütter und Väter sollten sich interessieren für
das, was Kinder im Unterricht lernen; nicht ausfragend und kontrollierend,
sondern anteilnehmend: durch aufmerksames Begleiten der schulischen Arbeit,
durch das ermutigende Wort, das Wahrnehmen des Lernfortschritts und das
Erleben-Lassen, dass die Kinder vorangekommen sind; durch Miteinander-Reden
über Gelerntes, durch Hilfe, wenn sich das Kind hilflos fühlt,
durch Akzeptieren außerschulischer Aktivitäten und durch Begrenzen
dessen, was passiv macht, zum Beispiel unmäßiges Fernsehen.
Ein freundlicher Kontakt zu Lehrerinnen und Lehrern erhöht das Interesse.
4. Kinder und Jugendliche brauchen ein aufrichtendes Wort: Ermutigung
stärkt den Lernwillen
Wenn Kinder für ihre Leistung anerkannt werden, steigt das Lerninteresse
und die Lernfreude. Bei fortwährendem Tadel hingegen – auch
dem durch schlechte Noten – sinkt die Lernbereitschaft. Besonders
gering ist der Lernwille, wenn Kinder und Jugendliche nicht beachtet werden.
Ermutigung führt zu Selbstvertrauen; das ermöglicht
den Schülern, zielstrebig zu arbeiten. Eltern und Lehrer sollten
mehr anerkennen statt tadeln, das Geglückte sehen und bestätigen.
Die Ängstlichen und Schwächeren brauchen das ermunternde Wort
besonders. Bei Eltern, Lehrerinnen und Lehrer, die Mut machen, können
Kinder besser lernen und mehr leisten.
5. Ohne Angst lernen - Taktvolles Erzieherverhalten erhöht das
Lern-Interesse
Übermäßige Angst macht dumm, krank, unkonzentriert,
anpassungsbereit und schweigsam. Eltern und Lehrer sollten den Kindern
eine entspannte Lernsituation ermöglichen. Dazu gehört
pädagogischer Takt: ein Kind nie bloßstellen, Blamagesituationen
vermeiden, es nicht unverhofft aufrufen, niemals auslachen, missglückte
Arbeiten nicht vorlesen, den Schüler nicht in Situationen des Versagens
bringen, ihn nicht wegen persönlicher Schwächen herabsetzen,
Zensuren nicht öffentlich bekannt geben. Prüfungen können
so eingerichtet werden, dass die Angst vermindert wird: durch genaues
Mitteilen des zu prüfenden Wissens, durch Hilfen bei der Vorbereitung,
durch Mitwirken der Schüler beim Festlegen der Prüfungsinhalte...
Nicht Angst machen, sondern Angst nehmen und Mut machen.
6. Zu Lernerfolg verhelfen – Erreichbare Leistung durch Differenzierung
Nichts spornt Kinder in ihrem Lernwillen mehr an, als eine geglückte
Leistung; diese stärkt das Selbstbewusstsein. Eltern, Lehrerinnen
und Lehrer sollten nicht ständig mit fragwürdigen Zensuren Leistung
messen, sondern den Kindern Leistung ermöglichen: durch
individuelle Anforderungen, die das Lernziel für das Kind
erreichbar machen. Nicht alle Kinder müssen das Gleiche lernen, sondern
jedes Kind leistet das ihm Mögliche. Am Ende jeder Unterrichtsstunde
sollten alle Schüler erkennen: „Ich habe etwas dazu gelernt.”
Das befriedigende Gefühl, etwas verstanden zu haben, regt zum Weiterlernen
an.
7. Positive Erwartungen von Eltern und Lehrern stimmen hoffnungsvoll
– Zuversicht wecken
Eltern, Lehrerinnen und Lehrer, die zuversichtliche Erwartungen an Kinder
herantragen, erhöhen deren Leistungsfähigkeit. Bei negativer
Erwartung hingegen vermindert sich die Tüchtigkeit der Schüler.
Positive Vor-Urteile optimistischer Lehrer und Eltern unterstützen
in den Kindern eine hoffnungsvolle Stimmung; und mit Hoffnung auf Erfolg
lernen sie bereitwilliger. In schwierigen Lernsituationen braucht das
Kind nicht Bewertung – schon gar nicht Ziffernnoten, es braucht
nicht Tadel, sondern Hilfe, um Schwierigkeiten zu überwinden.
8. Selbst-Tätig-Sein und Einsicht in den Sinn des Lernens –
Das Gelernte praktisch anwenden lassen
Wenn Kinder erfolgreich lernen sollen, müssen sie aktiv
sein. Das bedeutet eine Abkehr vom Wortunterricht. Durch eigenes Tun lernen
Kinder lieber, weil es ihrem Tätigkeitsdrang entgegenkommt. Handelnd
zu lernen ist wirksamer als Zuhören. Schüler wollen nicht
nur mit dem Kopf, sondern mit allen Sinnen lernen. Sie möchten
ihre eigene Aktivität erleben, selbstbestimmt arbeiten, für
ihre Arbeit verantwortlich sein. Dabei machen sie ermutigende Erfahrungen:
Anstrengung ermöglicht ihnen, die eigene Kraft zu erleben. Das Lernen
wird interessanter und motivierender, wenn die Schüler das Gelernte
in wirklichen Situationen anwenden können.
9. Halt-gebende Lehrer-Schüler-Kontakte stärken den Leistungswillen
– Die helfende Beziehung
Lehrer, die unnahbar sind, stören den Lernwillen. Fühlen sich
Kinder in der pädagogischen Beziehung sicher, lernen sie
erfolgreicher. Persönliches Interesse des Lehrers an ihrer Person,
macht Schüler bereit, sich anzustrengen. Kinder wollen lernen. Deshalb
ist die besondere Zuwendung, die Lehrer Schülern geben können,
ihnen beim Lernen zu helfen: verstehbar unterrichten, sich in die Denkweise
der Lernenden versetzen, das Wissen durchschaubar machen. Die sympathische
Beziehung zwischen Lehrern und Schülern macht aus einem „Ich
muss lernen” ein „Ich will lernen”.
10. Fehlerfreundlichkeit erleichtert die Schularbeit: Aus Fehlern lernen
– Ohne Fehler kein Lernen
Viel Lernfreude geht verloren, wenn Eltern und Lehrer nicht fehlerfreundlich
sind, sondern kindliche Fehler wie einen Feind bekämpfen. Fehlerfreundlichkeit
ist ein Lernprinzip, das Kinder im Denken und in ihrer Kreativität
unterstützt. Fehler werden nicht „angekreidet”, womöglich
als „Schlachtfeld” im Schülerheft. Sie werden als Lernanlass
gesehen: Fehlleistungen sind für die Entwicklung notwendig; wer nichts
versucht, macht keine Fehler. Aus „Fehlern” erkennen die Erwachsenen,
wo die Kinder stehen und wie sie ihnen weiterhelfen können. Fehler
sind Erfahrungen, aus denen man lernt, das Richtige zu erkennen und einzuüben.
Eltern und Lehrer verhalten sich pädagogisch taktvoll, wenn sie ein
Kind nie mit Fehlern bloßstellen, auslachen und nie vor der Klasse
missglückte Arbeiten vorzeigen. Über einem Schultor steht der
Satz: „Hier darf man Fehler machen.“
11. Schüler-Interessen ernst nehmen, neue Interessen wecken –
Interesse gehört zur Bildung
Kinder, die aus Interesse lernen, lernen nicht nur lieber, sondern leisten
auch mehr. Eltern und Lehrer sollten die Interessen der Kinder wahrnehmen,
ihnen nachgehen und Interesse wecken. Wenn es ihnen gelingt, Jugendliche
interessiert zu machen, schaffen sie eine wichtige Grundlage des Lernens.
Es gehört zum Schlimmsten, was Schulen anrichten, wenn das Lerninteresse
der Schüler im Verlauf der Schulzeit immer mehr nachlässt. Ohne
Interesse gibt es keine Bildung. Der Gebildete ist ein Mensch, der seine
Ansprechbarkeit auf Unbekanntes behalten hat. Er bleibt auf der Suche
nach Wissen und neuen Erfahrungen. Interesse zu fördern, ist Bildungsauftrag
von Familie und Schule.
12. Lernfreude durch Spontaneität: Ausprobieren, Entdecken, Neugier,
Fragen, Wissensdurst
Kinder sind von klein auf lernbereit: sie wollen zugreifen, sitzen,
krabbeln, laufen, sprechen, und üben das mit Ausdauer, ohne Lehrer!
Diesem spontanen Lernwillen sollten die Erwachsenen auch im Schulalter
folgen: indem sie die Schülerinnen und Schüler selbst entdecken
und ausprobieren lassen. Mit lern-begierigen Fragen möchten Kinder
die Welt kennen lernen. Deshalb wird der Unterricht interessant, wenn
er den Schülerfragen folgt - und nicht die Kinder den Lehrerfragen
„folgen” müssen. Wer fragt, der denkt. Jede Kinderfrage
ist ein fruchtbarer Moment im Lernprozess. Ein Unterricht, in dem immerfort
der fragt, der alles weiß – der Lehrer –, behindert
den spontanen Lernwillen.
13. Zusammenarbeiten statt Konkurrieren – Beziehung beflügelt
das Lernen – Einander helfen
Unterrichtsformen, bei denen die Kinder zusammenarbeiten dürfen,
regen das Lernen an: Partner und Kleingruppenarbeit, Kreisgespräch.
Zudem bewirkt Kooperation bessere Leistungen als Konkurrenz. Zusammenarbeiten
ist nicht nur das humanere Prinzip, sondern auch das erfolgreichere im
Vergleich mit dem Rivalitätsprinzip, bei dem Kinder gegeneinander,
statt miteinander lernen. Miteinander-Lernen fördert die
persönliche Leistung und die Gruppenleistung. Es unterstützt
das Problemlösen, stärkt die Verantwortung und verbessert die
menschliche Beziehung. Gruppenarbeit, Kreisgespräch, sich
zu jeder Zeit helfen dürfen, sollten Bestandteile des Unterrichts
sein.
14. Freiarbeit verstärkt das Interesse: Selbstbestimmt arbeiten
– Lernen, wie man lernt
Offener Unterricht ist gekennzeichnet durch freie Arbeit. Die Schüler
können Bereiche ihrer Unterrichtsaktivitäten mitbestimmen.
Es gibt ein reichhaltiges Angebot an Unterrichtsmaterialien, die zum Lernen
anregen. Gelernt wird viel in Einzelarbeit und in der Gruppe, nicht ausschließlich
im Klassenverband. Schüler können eigenständig
arbeiten und eigenverantwortlich sein. Sie werden nicht ständig
benotet, sondern erfahren ihren individuellen Lernfortschritt.
Offener Unterricht ist vor allem Lernen durch Tun, statt durch Zuhören,
Nachreden, Nachschreiben. Er orientiert sich an Schülerinteressen,
plant Projektunterricht ein und respektiert das persönliche Arbeitstempo.
Dazu müssen Kinder lernen, wie man lernt: Lernmethoden einüben,
Lernhilfen kennen lernen.
15. Mit Selbstvertrauen lernen – Das Selbstwertgefühl festigen
durch Anerkennen der Person
Kinder, die davon überzeugt sind: „Ich schaffe das!”,
können Anforderungen besser bewältigen. Sie bekommen Vertrauen
in ihre Leistungsmöglichkeit, wenn ihnen Lehrer zu Lernerfolg verhelfen
und ihnen das Gefühl geben, dass sie als Person akzeptiert werden.
Selbstvertrauen motiviert, hält Ängste in Schach und stärkt
den Lernwillen. Schüler, die mit Selbstvertrauen lernen, entwickeln
ein sicheres Selbstwertgefühl: Sie schätzen ihre Person positiv
ein. Selbstvertrauen wächst durch das anerkennende Wort, die erreichbare
und geglückte Leistung, durch Fortschrittserlebnisse.
16. Arbeitsdisziplin einüben – Auch sanfter Zwang ist für
die Interessen-Entwicklung notwendig
Zur Stärkung des Lernwillens gehört auch, Kinder anzuhalten,
„gegen den Strich” zu lernen. Der „sanfte Zwang” sollte
für Kinder einsichtig sein und ihre Lernmotivation beleben. Zwang
sollte nicht zu Unterdrückung und Entwertung des Kindes führen,
sondern zu der Erfahrung: Das habe ich geschafft, obwohl es mir schwer
fiel. Sie werden bestärkt, ihren inneren Widerstand zu überwinden
und erleben dadurch, dass sie eine Aufgabe bewältigen können.
Die Herausforderung zum „Lernen ohne Lust” stärkt in den
Kindern die Anstrengungsbereitschaft. Schülerinnen und Schüler
werden darin unterstützt, sich eine hilfreiche Arbeitsdisziplin anzugewöhnen:
Konzentration auf die Aufgabe, günstige Lernwege. Gute Gewohnheiten
einüben erspart Konflikte.
17. Interesse und Freude am Lernen erhält gesund, macht die Aggression
konstruktiv
Bei Untersuchungen zeigt sich: Schüler, die handelnd lernen, beziehungs-
und interessen-orientiert arbeiten dürfen, sind weniger ängstlich,
haben größere Freude am Lernen, gehen lieber
zur Schule, ihre Aggressivität nimmt ab, sie finden leichter Kontakt
zur Lehrerin, kommen untereinander besser in Beziehung und sind
seltener krank. Auch Lehrer fühlen sich im offenen Unterricht wohler
als im lehrerzentrierten. Sie können sich mehr um die einzelnen Kinder
annehmen. Unterrichtsformen, bei denen Kindern ein Höchstmaß
an Aktivität, Eigenständigkeit, Kreativität zugestanden
wird, fördern nicht nur die Lernleistung, sondern auch die seelische
und körperliche Gesundheit.
18. Kinder nicht nur als „Schüler”, sondern in ihrer
Ganzheit wahrnehmen – Die Individualität achten
Es belastet Kinder, wenn sie nur nach ihrem schulischen Fortkommen,
den in Zensuren ausgedrückten Leistungen beurteilt werden. Unbewusst
ängstigt sie die Frage: Werde ich auch gemocht, wenn ich nicht „gut”
bin? Es stärkt ihr Selbstgefühl, wenn Eltern und Lehrer sie
mit ihren „guten Seiten” akzeptieren, auch jenen Seiten, die
nichts mit Schule zu tun haben. Kinder und Jugendliche brauchen für
eine gesunde Entwicklung die Akzeptanz ihrer ganzen Person, ihrer Individualität.
19. Zukunftslernen für eine bessere Welt – Soziale Empfindsamkeit
und politisches Interesse entwickeln
Kinder leben heute in einer in der Menschheitsgeschichte noch nie dagewesenen
Epoche: Menschen können die Erde und sich selbst zu Grunde richten.
Die ökologischen, sozialen, kriegerischen und terroristischen Gefahren
erfordern ein neues Lernen; zu diesem gehört:
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Das Interesse für die Bewahrung der Erde wecken
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Das Bewusstsein für die Schonung der Natur ausbilden
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In den Kindern soziale Empfindsamkeit gegenüber anderen wachrufen
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Das Verantwortungsgefühl für Mitmensch und Mitwelt stärken
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Partnerschaftliches Zusammenarbeiten einüben
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Konflikte in Familie und Schule gewaltlos austragen lernen
-
Zu Zivilcourage und politischem Handeln ermutigen
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Zu demokratischer Mitverantwortung befähigen
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Eine neue Ethik des Zusammenlebens erfahren lassen
Von diesen Motiven sollten der Alltag und das Lernen in Familie und
Schule durchdrungen sein.

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