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Prof. Dr. Kurt Singer - Leitgedanken

Gehorsam und Ungehorsam im Erziehungsalltag
Den Eigen-Sinn respektieren – Das Gehorchen einüben –
Zu Eigenständigkeit führen – „Gegen den Strom schwimmen” lernen

1. Kinder brauchen Gehorsam, um sich in der Welt zurecht zu finden

Kleine Kinder müssen gehorchen, auf die Erwachsenen „hören”: nur so können sie sich seelisch und körperlich gesund entwickeln. Sie sollen mit dem Gehorchen gute Erfahrungen machen; denn ohne Gehorsam wären sie ständig gefährdet. Der lebensnotwendige Gehorsam muss eingeübt werden. Das sollte damit einhergehen, Kinder in ihrer Spontaneität und in ihrer Ich-Stärke nicht einzuschränken.

Überlegungen: Was berührt mich am Thema „Gehorsam und Ungehorsam” als Mutter, Vater, als Lehrer? Gibt es Alltagssituationen, in denen „Gehorchen” zum Konflikt wird? Welche Fragen und Unsicherheiten tauchen für mich auf? – Erlebte ich in meiner Kindheit Gehorsamsforderungen als streng und angstmachend, oder als einsehbar und hilfreich?

2. Den „Eigensinn” als „eigenen Sinn” respektieren, statt ihn als „Eigensinn” zu unterdrücken

So wichtig wie Gehorchen ist der eigene Wille. Für die gesunde seelische Entwicklung muß das Kind ein sicheres Selbstwertgefühl entwickeln. Gehen Erwachsene fürsorglich und achtungsvoll mit Kindern um, erleben diese sich als wert voll. Das Selbstwertgefühl hat seine Wurzeln auch in der Erfahrung, mit dem eigenen Wollen angenommen zu werden.

Zum Nachdenken: Passiert es mir, dass ich mich von trotzenden Kindern in einen Machtkampf hineinziehen lasse? Wie komme ich aus dem Machtkampf heraus? In welchen Situationen achte ich besonders darauf, schonend mit dem Selbstwertgefühl der Kinder umzugehen? – Kenne ich Erfahrungen aus meiner Kindheit, in denen mein Eigensinn von Eltern und Erziehern als „eigener Sinn” akzeptiert wurde? Und kann ich heute zu meinem „eigenen Sinn” stehen, im Beruf, der Ehe-Beziehung…?

3. Den Weg von „Folgsamkeit” zu einsichtigem Gehorsam unterstützen

Wenn Kinder einsichtsfähig werden, sollten sie zunehmend weniger „folgen” und „blind” gehorchen, sondern „sehenden” Gehorsam lernen: nicht alles tun, was ihnen befohlen wird, sondern prüfen, ob der Inhalt des Befohlenen wertvoll ist. Eltern und Erzieherinnen können diesen erkennenden Ich-Gehorsam unterstützen: indem sie Einsicht und Einfühlung stärken und die Kinder ermutigen, Verantwortung zu übernehmen. Die Frage nach dem Inhalt des Gehorsams ist vorrangig. Beim einsichtigen Gehorsam geht es nicht nur um Pflichterfüllung, sondern um selbst verantwortetes Handeln.

Fragen: Wie fördere ich „erkennenden” oder „sehenden” oder „einsichtigen” Gehorsam in meinem Erziehungsalltag? Neige ich manchmal dazu, formalen Gehorsam zu verlangen durch Bemerkungen wie „Das tut man nicht”, „Keine Widerrede”, „Tu, was ich dir sage…”? – Neige ich manchmal zum Dressieren, statt das selbstbestimmte Handeln zu unterstützen?

4. Gehorchen-Lernen muss mit Wertvorstellungen verknüpft sein – Tugenden einüben

Gehorsam an sich ist noch keine Tugend. Zur Tugend wird er erst in Verbindung mit menschlichen Grundwerten. Dazu ist es notwendig, sich mit der Frage auseinander zu setzen: Was gehört zu einem wert-vollen Leben? Die Kinder müssen Gehorsamsforderungen von klein auf mit Grundtugenden verbinden können: Rücksichtnahme, Hilfsbereitschaft, Sorge um andere, Ehrfurcht vor der Natur, Verantwortung, Mitgefühl, Gewaltfreiheit, Gerechtigkeit… Erwachsene sollten lebendiges Beispiel für das wertgerichtete Handeln sein, das sie von den Heranwachsenden erwarten. Gehorsam entfaltet ein Wert-Bewusstsein, das dem Zusammenleben dient.

Zum Überlegen: Welche Werte lasse ich die Kinder erfahren? In welchen Situationen scheint mir mein vorbildliches Verhalten wichtig? Wo sollte ich mit meinen Wertvorstellungen gegen den Strom schwimmen, statt mich anzupassen?

5. Gebote und Verbote begründen und erklären

Eltern und Lehrer sollten nicht nur befehlen oder verbieten, sondern wo immer das möglich ist, das Gebot oder Verbot erklären. Diese Erklärung erfolgt nicht, um das Gebot zu rechtfertigen, sondern um dem Kind einen Zuwachs an Erkenntnis zu ermöglichen, an Wert-Bewusstsein, an Lenkung des Eigenwillens, Gewöhnung an Ordnung und Regelmäßigkeit. Oft ist es wirksamer, sich zu verständigen, statt Anordnungen zu geben.

6. Halt und Begrenzung geben – Kinder stark machen

Kinder brauchen zu ihrem Schutz Grenzen, um sich orientieren zu können. Machtbehauptende Erziehung ist so schädlich wie gewähren lassende. Beim Gewähren-Lassen wie bei autoritärem Erziehungsverhalten wird das Ich des Kindes geschwächt. Nur durch unterstützende Erziehung entsteht Eigenständigkeit; diese stärkt das Selbstbewusstsein. Halt-gebende Grenzen helfen den Kindern, sich zurechtzufinden: Halt, hier geht es nicht weiter! – Aber auch: Ich gebe dir Halt und Wegweisung. – Kinder sollen durch Gehorsam nicht lernen, sich anzupassen, sondern einsichtig mit der Wirklichkeit umzugehen.

7. Sachliche und persönliche Grenzen aufzeigen – Kinder nicht verwöhnen

Grenzen aufzeigen heißt zum einen: den Kindern die sachlichen Begrenzungen vor Augen führen: die Wirklichkeit zu klären und bei der Realitätsfindung zu helfen. Zum anderen ist hilfreich, wenn die Erwachsenen nicht nur „Du sollst Forderungen” und „Man-tut-nicht-Regeln” aufstellen, sondern auch ihre persönlichen Grenzen erfahren lassen. Wenn Kinder die Wünsche der Eltern und Erzieher wahrnehmen, wird es ihnen möglich, Rücksicht zu nehmen. Andernfalls werden sie grenzen-los und übergreifend. Außerdem macht es Kinder mutlos, wenn sie verwöhnt werden; Verwöhnung schwächt die Person ebenso wie die autoritäre Forderung, sich anzupassen.

8. Das Nein und Ja überlegt aussprechen – Festigkeit stützt die Kinder

Das Nein sollte überlegt ausgesprochen und dann eingehalten werden. Zuvor muß hinreichend Gelegenheit zwischen Kindern und Eltern sein, sich zu verständigen, damit nicht später hin- und hergeschwankt und die Grenze unscharf wird. Dem Kind gibt es Sicherheit, wenn es spürt: die Eltern, Erzieherinnen und Lehrer bleiben fest. Das bedeutet nicht, dass die Konsequenz der Erwachsenen starr sein soll, wenn neue Einsichten und Situationen auftreten.

Zum Überlegen: Welche Grenzen zeige ich auf und wie übe ich mit den Kindern die grenzen-setzenden Regeln ein? Wo sind die Grenzen sachbestimmt und wo schütze ich durch Abgrenzung meine Person? Belehre ich die Kinder zuviel – oder sage ich ihnen, was ich nicht ertragen kann und was ich mir wünsche? Spreche ich womöglich zu oft von dem, was Kinder „sollen” oder was „man” tut, anstatt von meinen Wünschen?

9. Sich als Eltern und Erzieher begreifen lassen mit dem eigenen Denken und Fühlen

Mütter und Väter wie Erzieherinnen, Lehrerinnen und Lehrer neigen dazu, immer gleich „einzuwirken”, statt die Beziehung zu klären. In der Beziehung geht es darum sich erkennen zu lassen: eigene Wünsche auszudrücken, statt anzuordnen, eigene Ängste spüren zu lassen, statt zu verbieten, Freude und Bedrückung mitzuteilen, Hoffnungen auszusprechen. Wenn sich die Erwachsenen begreifen lassen, haben Kinder und Jugendliche eine Chance, auf sie einzugehen und sich ihrerseits begreifen zu lassen. Das erleichtert es, sich zu verstehen.

Erfahrungen dazu: Wie sieht das aus, wenn ich mich erkennen lasse? Wie ermögliche ich es den Kindern, mich zu begreifen? Gibt es Befehle, die ich besser als persönliche Wünsche äußern könnte? Meine ich womöglich, die Kinder dürften keine Mängel an mir entdecken? Möchte ich verhüten, dass sie mich als „schwach” erleben? Neige ich in bestimmten Situationen dazu, nicht Nein sagen zu können?

10. Kinder ernst nehmen – Zuhören als wichtiges Element des Gehorsams

Kinder ernst zu nehmen, drücken Erwachsene dadurch aus, dass sie den Kindern aufmerksam zuhören, sie ausreden lassen, auf das eingehen, was diese mitteilen, sich für die Kinder interessieren. Sie entwerten nicht, was für die Kinder wichtig ist, zum Beispiel die „andere” Musik oder ihre „anderen” Spiele. Eltern und Erzieher müssen nicht gutheißen, was das Kind gerade für Ansichten und Vorlieben hat. Aber sie können sich mit derer Meinung auseinandersetzen, ohne entwertend zu sein.

11. Kinder sollen ein sich selbst bewahrendes „Nein” sagen können – Widerspruchsmut unterstützen

Kinder sollen unterstützt werden, sich gegen Erwachsene zu wehren. Sonst besteht die Gefahr, dass sie sich unterwerfen und sich an Schwächeren rächen, zum Beispiel später an ihren eigenen Kindern. Wir müssen dazu ermutigen, die Erwachsenen in Frage zu stellen: wahrzunehmen, dass diese „gut” und „böse” sind, „stark” und „schwach”. – Dem Nein des Kindes steht oft das Nein der Eltern und Erzieher gegenüber. Das muss nicht zu gegenseitiger Machtausübung führen, sondern wird Anlass, sich auseinander zu setzen und eine gemeinsame Regelung zu finden. Widerspruchsmut ist eine Tugend.

Eigene Gedanken dazu: Konnte ich in meiner Kindheit ermutigende Erfahrungen mit dem Nein-Sagen machen? Kann ich mich heute durch ein selbstbewahrendes Nein behüten? Oder muss ich mich immer zuerst in den anderen „hineinversetzen”, anstatt mich mit ihm unmittelbar auseinander zu setzen? – Wie kann ich die Kinder unterstützen, sich zu wehren? Wann habe ich ein Kind gelobt, weil es ungehorsam war?

12. Als Erwachsene glaubwürdig und Vorbild sein – Ein gutes Beispiel geben

Am ehesten „horchen” Kinder auf Eltern, Lehrerinnen und Lehrer, wenn sie ihnen nacheifern wollen, sie bewundern und achten. Sie reagieren stärker auf das, was die Erwachsenen vorleben, als auf das, was diese sagen. Wenn Eltern und Erzieher etwas von den Kindern verlangen, was sie nicht selbst praktizieren, bleiben ihre Anweisungen wirkungslos. Je sichtbarer sie ihren Wertvorstellungen entsprechend leben, umso haltgebender wirkt das Vorgelebte auf Kinder.

13. Hilfreiche Ordnungen und gute Gewohnheiten einüben

Viele Gehorsams-Forderungen werden überflüssig, wenn Kinder lernen, Ordnungen einzuhalten: im Kindergarten, im häuslichen Tagesablauf, bei der Mithilfe in der Familie, in der Schule, beim Aufgabenmachen… Was zur guten Gewohnheit wird, bedarf nicht erneut eines Willensentschlusses durch das Kind oder einer Anordnung. Die Erwachsenen unterstützen das Kind dabei, Ordnungen als hilfreich zu erleben, sich daran zu halten und die Ordnungshilfen einzuüben. Gute Gewohntheiten ersparen Konflikte.

Fragen: Welche Ordnungen erleichtern Ihnen und den Kindern das Leben? Was kann zur Gewohnheit werden, damit man etwas nicht „immer wieder sagen” muss? Wie können Ordnungen nicht nur verlangt und angemahnt, sondern eingeübt werden?

14. Beziehung aufnehmen, statt auf Gehorsam zu bestehen – Abmachungen treffen

Eltern und Erzieher lassen sich oft von der Ansicht leiten, sie müssten mit den Kindern etwas machen, über sie verfügen, sie zu einem bestimmten Verhalten nötigen, ihnen etwas vorschreiben, sie zu Wohlverhalten zwingen. Daraus entspringen Machtkämpfe. – Der andere Weg ist, sich zu fragen: Was will ich tun, um die Beziehung zu verbessern? Wie kann ich für die Kinder mit meinen Wünschen deutlich werden? Wie kommt es zu einer Übereinkunft? – Die Frage nach dem Sich-Durchsetzen weicht der Frage nach dem Sich-Verständigen. Am Ende der Verständigung sollten Abmachungen stehen.

15. Zu selbst bestimmtem Handeln und Verantwortung führen – „Für sich sein” lassen

Wir sollten Kinder ermutigen, selbständig zu entscheiden. Dadurch erfahren sie: das eigene Denken wird ernst genommen. Anstatt durch Befehle Anpassung zu fordern, sollten wir sie mitwirken lassen: ihre Interessen, Wünsche und Vorschläge aufnehmen und in Beziehung setzen mit den Interessen der Erwachsenen und dem, was sachlich notwendig ist. Dann machen Kinder die Erfahrung, dass sie nicht ohnmächtig sind, sondern die Ereignisse mitgestalten können. Dazu ist es wichtig, Selbständigkeit zu fördern, zum Beispiel beim selbstbestimmten Spielen oder beim „Offenen Unterricht”: der Freiarbeit, dem freien Schreiben, der Gruppenarbeit, dem individuellen Lernen. Kinder brauchen Zeiten, in denen wir sie in Ruhe und für sich sein lassen, in denen sie sich zurückziehen und selbstvergessen spielen oder arbeiten können.

Überlegungen: Gebe ich Kindern die Möglichkeit, eigenverantwortlich etwas zu tun? Wie kann ich sie in überschaubaren Bereichen Verantwortung übernehmen lassen? Wie kann ich fördern, dass Kinder immer wieder etwas „ganz allein” und „für sich” tun können?

16. Bravheit kann krank machen – Die gesunde Aggression fördern

Zur kindlichen Entwicklung gehört die gesunde Aggression: auf die Welt zugehen, Dinge und Menschen an greifen, Nein sagen und sich wehren, sich auseinandersetzen, streiten, Widerspruch und Einspruch. Werden die spontanen Impulse der Eigen-Bewegung unterdrückt, kann das psychische und psychosomatische Störungen hervorrufen, zum Beispiel: Angepasstheit, Duckmäusertum, Schüchternheit, Nägelbeißen, nächtliches Zähneknirschen, hoher Blutdruck. Kinder brauchen Eigen-Bewegung.

17. Gehorsamserfahrungen aus der eigenen Kindheit erinnern – Selbstwahrnehmung

Manche Erwachsenen neigen dazu, ihre Kindheitserfahrungen zu verklären und nur die lichten Ereignisse hervorzuholen. Es ist hilfreich, wenn sich Eltern, Lehrerinnen und Lehrer kritisch an eigene Erfahrungen mit dem Gehorsam erinnern: Wie hab' ich selbst das Gehorchen-Müssen erlebt? – Indem sie die Situationen der Kinderzeit gedanklich wiederbeleben, können sie sich besser in Kinder einfühlen. Kindheitserfahrungen offen zu betrachten, rührt an eigene Kindernöte von damals und bewahrt Erwachsene vor dem Satz: „Uns hat es auch nicht geschadet.”

Selbstwahrnehmung: Darf ich vielleicht die Idealisierung meiner Eltern nicht in Frage stellen? Verleugne ich mit dem Satz „Uns hat es auch nicht geschadet!”, was mir geschadet hat und muss ich eigene Kindernöte in der Verdrängung halten?

18. Den eigenen Gehorsam in Frage stellen – Gesellschaftliches Engagement

Wie gehorsam oder ungehorsam bin ich als Mutter, Vater, Ehepartner, am Arbeitsplatz, gegenüber Kindergarten und Schule, in öffentlichen Angelegenheiten? Wage ich Widerspruch, wenn von mir unrechtes Handeln erwartet wird? – Nehme ich die ökologischen Gefahren hin, die den Kindern von einer Politik aufgebürdet werden, die über die Lebensinteressen der nächsten Generation hinweggeht: die Gefährdung durch Atomkraftwerke, durch einen beschädigten „Himmel”, durch verpestete Luft, verseuchte Gewässer, vergiftete Nahrung, zerstörtes Klima, die Friedlosigkeit? Trete ich für kindgemäße Lebensbedingungen im Stadtviertel, für mehr Menschlichkeit in der Schule ein?

19. Auch Ungehorsam und Zivilcourage müssen gelernt werden – Sozialer Mut

Nicht nur Gehorsam, auch Ungehorsam ist ein Erziehungsziel. Kinder sollen ermutigt werden, sich unvernünftigen und moralisch verwerflichen Befehlen zu widersetzen. Dazu müssen sie Wertvorstellungen entwickeln, nach denen sie ihren Gehorsam oder Ungehorsam ausrichten können. Zivilcourage sollte als wichtige demokratische Tugend in Familie und Schule gefördert werden: der Mut, die eigene Meinung öffentlich auszusprechen, sich mit seiner Überzeugung erkennen zu lassen, für mehr Menschlichkeit einzutreten, sich mit Sachkenntnis argumentativ einzumischen und politisch zu handeln, gegen den Strom zu schwimmen.

Fragen: Bin ich mit meinem Bürgermut zufrieden? Wie können wir lernen, „Nein” zu sagen, statt „Läuft” und „Wird gemacht”? In welchen Situationen könnte ich an meiner Dienststelle und in meiner Umgebung mehr sozialen Mut entwickeln?

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