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Prof. Dr. Kurt Singer - Leitgedanken

Die Würde des Schülers ist antastbar
Für die achtsame Beziehung zu Kindern und Jugendlichen in der Schule

 

Kinder vor seelischer Verletzung schützen
Das Tabu des „Macht-Missbrauchs durch Lehrer“ aufheben
In der Schule mehr Demokratie wagen

 

1. Menschenrechte sind auch Kinderrechte –
Gewaltfreie Erziehung ist Gesetz – Halten wir es ein?

In der Erklärung der Vereinten Nationen heißt es: „Kein Kind darf willkürlichen oder rechtswidrigen Beeinträchtigungen seiner Ehre und seines Rufes ausgesetzt werden. Die Disziplin in der Schule muss in einer Weise gewahrt werden, die der Menschenwürde des Kindes entspricht. Es hat das Recht, seine Meinung in allen es berührenden Angelegenheiten frei zu äußern. Die Erwachsenen berücksichtigen die Meinung des Kindes…” Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.” Seit 2000 ist gewaltfreie Erziehung Kinderrecht. Es verbietet „körperliche Bestrafung, seelische Verletzung und andere entwürdigende Maßnahmen”.

2. Die Würde des Schülers ist antastbar –
Wenn Lehrer Kinder seelisch verletzen, und alle es geschehen lassen

Zwar sind es „Einzelfälle”, in denen Schüler gedemütigt, überfordert, bloß gestellt, in ihrem Selbstwertgefühl verletzt werden. Aber unpädagogisches Handeln weniger Lehrer stört das Lernen vieler Kinder. Es wirkt als Krankheitserreger in das Schulsystem hinein. Die großen Schrecken kränkenden Lehrerverhaltens setzen sich in kleinen Schrecken des Schulalltags fort: in der Furcht vor Prüfungen, der Angst zu versagen, sich zu blamieren. – Viele Lehrer bemühen sich, unterrichtlich kompetent und mitfühlfähig auf Schüler einzugehen. Aber selbst sie werden von unpädagogischen Verordnungen gezwungen, Kinder unter Druck zu setzen und deren Individualität zu missachten. Es gilt, das Tabu zu brechen, Schulumstände in Schweigen zu hüllen, durch welche die Würde der Schüler verletzt wird. Eltern, Lehrer und Jugendliche sollten mit Zivilcourage für demokratische Verhältnisse eintreten.

3. „Gewalt in der Schule“ – nur von Kindern und Jugendlichen? –
Das Tabu des Macht-Missbrauchs durch „Einzelfälle“ von Lehrerinnen und Lehrern

Wenn über „Gewalt in der Schule“ gesprochen wird, denkt man in der Regel an Gewalt, die von Schülern ausgeht. Das überrascht; denn Schüler geben an: Sie seien öfter verletzendem Lehrerverhalten ausgesetzt als Angriffen von Mitschülern. Dass Lehrergewalt mindestens so häufig vorkommt wie Schülergewalt, zeigt sich in wissenschaftlichen Untersuchungen. Auch Erwachsene erzählen weniger von gewalttätigen Mitschülern, als von macht-behauptenden Lehrern, unter denen sie litten. Noch nach Jahren oder Jahrzehnten erinnern sie mit Unbehagen, Angst oder Wut kränkende Vorfälle, bei denen sie gedemütigt wurden. Manche fühlen sich durch die Gewalt des Macht-Missbrauchs dauerhaft beschädigt. Viele Erwachsene kennen verletzendes Lehrerverhalten, aber in aktuellen Situationen ihrer Kinder schweigen sie dazu. Das Tabu über dem Macht-Missbrauch von Lehrern scheint unüberwindbar. Das hängt auch damit zusammen, dass in die Schule kaum ein Hauch von Demokratie eingedrungen ist.

4. Verächtlich machende Lehrer-Sprache: Worte können töten –
Sie können seelisch und psychosomatisch verletzen

Es schädigt Kinder in ihrem Selbstwert, wenn sie beleidigt, gekränkt, entwertet werden. Oft fühlen sie sich bei herabsetzendem Lehrerverhalten selbst schuld; sie dürfen nicht merken, was ihnen angetan wird. In Einzelfällen sind sie Opfer einer Pädagogik der Unterwerfung, die sich in Gewalt durch verächtlich machende Worte und Zensuren-Willkür äußert. Erniedrigende Lehrersprache kann „Gift” sein, das psychisch und psychosomatisch verletzt. Worte können töten: das Selbstwertgefühl, die Lernfreude, die pädagogische Beziehung, den Mut – aber auch in der wirklichen Bedeutung des Wortes.

5. Achtsame Beziehung durch das aufrichtende Wort –
Persönliche Anerkennung und Lernerfolg stärken das Selbstvertrauen der Jugendlichen

Das ”gute Wort” macht Schülern bewusst: Wir sind im Lernen vorangekommen und werden als Person akzeptiert. Von Lehrern wahr-genommen zu werden, stärkt ihren Glauben an sich selbst: ihr Selbstbild. Das Selbstwertgefühl ist Voraussetzung erfolgreichen Lernens. Lehrer und Lehrerinnen sollten Schüler anerkennen: genau hinsehen, das Kind nicht nur als Schüler, sondern als ganzen Menschen erkennen. Ermutigende Wort beflügeln und machen zuversichtlich; sie wirken oft lange nach. Bei Lehrern, die Mut machen, können Kinder gut lernen. Es ist Aufgabe von Lehrern, den Kindern zu Erfolg zu verhelfen – und zwar allen Schülern, auch den Schwachen, entsprechend ihren individuellen Möglichkeiten.

6. Klagen der Schüler über entwürdigendes Lehrerverhalten –Verletzung der Persönlichkeitsrechte:
Angst machen, demütigen, überfordern

Kinder und Jugendliche klagen weniger über die Schule an sich. Sie klagen über Lehrer, die ihnen das Lernen und Leben schwer machen. Diese „Einzelfälle” stellen Kinder bloß, lachen sie aus, lassen sie an Prüfungsfragen hängen, bedrohen und disziplinieren sie mit schlechten Zensuren. Sie lesen ohne Einverständnis der Jugendlichen missglückte Arbeiten vor, blamieren Kinder, erniedrigen sie durch Kritik an ihrem Aussehen, rufen die Schüler auch dann auf, wenn diese sich nicht zu Wort melden. Oft sagen Jugendliche, sie würden „fertig gemacht“. Gefürchtete Lehrer erschrecken Kinder mit unangesagten Proben, kreiden ihnen Fehler an und sehen nicht, was geglückt ist. Sie lassen nicht mit sich reden, verweigern den Schülern mitzubestimmen, stellen überhöhte Leistungsanforderungen ohne individuell Rücksicht zu nehmen. Sie helfen ihnen nicht, wenn sie sich schwer tun. „Angst machen“ ist so weit verbreitet, dass es einen eigenen Begriff dafür gibt: Schulangst. Jemand Angst einjagen ist seelische Gewalt.

7. Würdevoller Umgang mit Schulkindern: Unterrichten, eine ”helfende Beziehung” –
Lehrer-Autorität als Vorbild

Freundlicher Kontakt zwischen Lehrern und Schülern zählt zu den Grundlagen des Lernens. Der menschliche Bezug festigt in Kindern den Lernwillen und verhilft zu Arbeitszufriedenheit. Unterricht wird nicht nur vom Lerninhalt bestimmt, sondern auch durch die pädagogische Beziehung. Schüler strengen sich mehr an, wenn sie ein persönliches Interesse des Lehrers spüren und wenn sie ihre Lehrer als Autorität anerkennen. Der Respekt der Schüler gegenüber den Lehrenden beruht auf deren menschlichen und intellektuellen Qualitäten. Die Lehrer-Autorität drückt sich darin aus, dass der Lehrer sein Fach überzeugend vertritt, lebendig unterrichtet, als Person beziehungsfähig und moralisches Vorbild ist.

8. Die Schüler achtungsvoll behandeln durch pädagogischen Takt –
Lernklima der Rücksichtnahme: Vom Unterrichtsfach „Ethik“ zu „angewandter Ethik“

Taktvoll miteinander umzugehen beruht auf der Achtung vor der Würde des Menschen. Die ungleiche Situation zwischen Kindern und Erwachsenen erfordert, sich in Kinder einzudenken, Rücksicht vorzuleben und die Schüler zu Rücksicht anzuleiten. Bei Lehrern mit pädagogischem Takt können Kinder sicher sein, nie bloßgestellt, nicht unvorhergesehen aufgerufen zu werden, sondern nur, wenn sie sich melden. Schüler werden nicht ausgelacht und beschämt, Zensuren nicht vor anderen bekannt gegeben. Taktvolle Lehrerinnen bemängeln Fehler nicht öffentlich; sie korrigieren behutsam, um die Schülerarbeit nicht zu entwerten. Fehler-Freundlichkeit ist Unterrichtsprinzip: Aus Fehlern lernen, statt Kinder damit zu verurteilen. Taktvolle Lehrer vermeiden es, geistige und körperliche Schwächen von Jugendlichen aufzuzeigen, Kinder durch Ironie oder mit Schimpf- und Spottnamen zu erniedrigen. Durch pädagogischen Takt sind Lehrerinnen und Lehrer Vorbilder für das taktvolle Verhalten, zu dem sie die Schüler erziehen wollen. Schülerinnen und Schüler brauchen nicht nur Ethikunterricht, sondern „angewandte Ethik“ im Schulalltag.

9. Angst mildern durch lernpsychologisch begründetes Prüfen –
Die Schüler vor Misserfolg bewahren

Besonders verbreitet ist Prüfungsangst. Aber übermäßige Angst macht dumm, krank, unkonzentriert, anpassungsbereit und schweigsam. Es gehört zur helfenden Lehrer-Schüler-Beziehung, Angst zu vermindern. Zum Beispiel durch lernpsychologisch begründetes Prüfen: Die Schüler wissen genau, was drankommt, wirken mit beim Erstellen von Fragen, bekommen ausreichend Zeit, um sich vorzubereiten, üben in Vorversuchen die Leistungsprüfung ein, lernen Methoden geistigen Arbeitens, dürfen Hilfsmittel verwenden. Sie erhalten die Prüfungsarbeiten rasch und taktvoll zurück, werden gut informiert über Erfolg und Misserfolg, bekommen Hilfen für das weitere Lernen. Lernpsychologisch sinnvoll ist es, missglückte Prüfungen wiederholen und nicht die Kinder auf ihrem Misserfolg sitzen zu lassen.

10. Eine humane Schule ist die beste Leistungsschule –
Entmutigendes Lehrerverhalten behindert die Lern-Entwicklung

Entmutigende Erfahrungen durch Misserfolg, Überforderung, persönliche Herabsetzung, Übersehen-Werden, schränken für Kinder das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit ein, manchmal sogar das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Unpädagogisches Lehrerhandeln zerstört in den Schülern Lernfreude, Fragelust und Lernwillen; es raubt ihnen Interesse, Vertrauen und Selbstvertrauen, die Lust am Denken und Erfinden, Spontaneität und Selbstwertgefühl. Es nimmt ihnen Hoffnung auf Erfolg und enttäuscht sie in ihrem Wunsch nach guter Beziehung. Destruktives Lehrerverhalten kann Kinder seelisch und körperlich krank machen. Deshalb sollten wir das Lernen in der Schule daraufhin prüfen, ob es Humanität befördert. Eine humane Schule ist die beste Leistungsschule, mehr Menschlichkeit im Unterricht stärkt die Leistungstüchtigkeit.

11. Eltern und Lehrerkollegen sollten den Kindern bei Angst vor Lehrern beistehen –
Sich mit pädagogischer Vernunft und menschlicher Anteilnahme einmischen

Eltern und Lehrerkollegen sollten Unrecht benennen und Verantwortung für die Kinder übernehmen. Das ermöglicht es jenen Lehrern, die ihre Macht missbrauchen, ihr Verhalten zu überdenken. Konflikte und Widersprüche sollten öffentlich gemacht und gemeinschaftliche Formen des Umgangs mit Konflikten ermöglicht werden. Mit der Befürchtung ”Wenn wir Lehrer kritisieren, muss es das Kind büßen”, flüchten Eltern in eine Haltung der Ohnmacht. Die Kinder büßen vielmehr, dass Mütter und Väter zu Unrecht schweigen. Eltern sollten Fürsprache für Kinder wagen. Wenn sie pädagogisches Unvermögen offen benennen, tragen sie dazu bei, es zu überwinden. Weil Lehrerschicksale zu Schülerschicksalen werden, gilt es die Kinder vor ungeeigneten Lehrerpersönlichkeiten zu schützen und diese selbst vor ihrem psychisch verletzenden Handeln zu bewahren. Nicht nur der psychisch gestörte Lehrer macht sich schuldig, sondern auch seine Umgebung; denn sie verhindert das schülerfeindliche Verhalten nicht.

12. Gegen kränkendes Lehrerverhalten protestieren –
Eltern, Lehrer und Schüler können Wege der Konfliktbearbeitung beschreiten

Alle Beteiligten sollten das Tabu brechen, den Macht-Missbrauch in Schweigen zu hüllen, den „Einzelfälle“ gegenüber wehrlosen Kindern ausüben.

  • Genau hinsehen, statt wegzuschauen. Den Kindern zuhören; sie ernst nehmen, wenn sie über entwürdigende Vorkommnisse berichten, diese schriftlich festhalten.

  • Mit anderen Schülereltern über deren Beobachtungen sprechen; sich solidarisieren.

  • Elterngespräche mit dem schwierigen Lehrer. Die Not des Kindes erkennen lassen, Lehrer nicht vorschnell schuldig sprechen. Die Lehrer-Sicht anhören, auf den Rechten des Schülers bestehen.

  • Gespräch der Eltern mit der Klassenlehrerin, dem Vertrauenslehrer, mit aufgeschlossenen Lehrern des Kollegiums. Die verletzende Situation aufzeigen, schul-öffentlich machen, um Mithilfe bitten.

  • Gespräche mit der Schulleitung auf Grundlage genauer Informationen und Notizen über taktloses, demütigendes, überforderndes oder unterdrückendes Lehrerverhalten; Vorschläge formulieren.

  • Gespräche von Lehrerkollegen mit dem unpädagogisch handelnden Lehrer: einzeln oder in kleiner Gruppe den Konflikt klären, Hilfsangebote machen, dem kränkenden Lehrer Grenzen setzen.

  • Gespräche mit Schulpsychologen, Beratungslehrern: Wie können sich diese für die Schüler einsetzen?

  • Gespräch in der Lehrerkonferenz: ein Bündnis anstreben im Interesse von Schule und Schülern.

  • Konflikt-bearbeitende Gespräche der Schüler mit dem schwierigen Lehrer, zusammen mit einem vermittelnden Lehrer. Den Schülern zuhören, Vorschläge erarbeiten, deren Verwirklichung verfolgen.

  • Diskussion im Elternbeirat. Gespräche von Elternvertretern mit dem Lehrer, Klassenlehrer, der Schulleitung. Zusammenarbeit mit Schülern und Schülervertretern.

  • Vom Kinderarzt psychosomatische Störungen bestätigen lassen, ihn um Engagement bitten, ebenso Psychotherapeutinnen für Kinder und Jugendliche.

  • Antrag auf Umschulung: dem durch den gestörten Lehrer gestörten Kind bei einer anderen Lehrerin einen Neu-Anfang ermöglichen.

  • Vorsprache bei Schulrat und Schulbehörden, eine Dokumentation erarbeiten über Vorfälle, die gegen die Würde des Kindes verstoßen.

  • Öffentlichkeit herstellen durch Presse und andere Medien.

  • Dienstaufsichtsbeschwerde, gestützt auf Unterrichtsgesetz, Schulordnung, Beamtenrecht ,Verfassung.

  • Das Petitionsrecht nützen: sich schriftlich mit Bitten und Beschwerden an Abgeordnete wenden.

  • Gerichtliches Vorgehen bei Verstößen gegen das Grundgesetz, gegen die Persönlichkeitsrechte der Schüler und die Kinderkonvention der Vereinten Nationen.

13. Das Tabu bei destruktivem Lehrerhandeln hält den schulpsychologischen Erkenntnisstand tief –
Es verhindert den pädagogischen Fortschritt

Selbst schlimmste Verstöße gegen die Persönlichkeitsrechte der Schüler werden meist stillschweigend hingenommen. Das Thema wird nicht öffentlich diskutiert, die Kinder finden zu wenig Fürsprecher. Dieses Tabu behindert den pädagogischen Fortschritt; es führt vom Denkverbot zur Denkhemmung. Deshalb gehört die „Pathologie der Normalität” zum Schulalltag: das lernstörende Zensurensystem, die angstmachende Prüfungspraxis, die Missachtung der kindlichen Individualität, das Diktat von Stoffplänen, das den ”Lebensstoff” der Schüler ignoriert, das zerhackte Lernen im Dreiviertelstunden-Takt, der lernpsychologische Widersinn, unterschiedliche Kinder nicht unterschiedlich lernen zu lassen, sondern alle zur gleichen Zeit, im selben Arbeitstempo, mit der gleichen Methode, im selben Schwierigkeitsgrad über die gleiche Sache zu unterrichten, fehlende Möglichkeiten, Schüler, Eltern und Lehrer mitbestimmen zu lassen.

14. Gestörte Lehrer stören das Lernen – Sie brauchen Konfrontation, „Nachhilfe“ und Hilfe -
Die wehrlosen Kinder brauchen Schutz und Unterstützung in hilfloser Situation

Wenn Lehrer die Würde der Schüler missachten, muss das Folgen haben. Diese Lehrer müssen mit ihrem kindfeindlichen Verhalten konfrontiert, bei der Korrektur ihres Verhaltens unterstützt, zu pädagogischer Weiterbildung und Arbeit an ihrer Person verpflichtet werden. Wege sind: die Konfrontation mit dem unpädagogischen Verhalten durch Kollegen, Eltern, Schüler, Schulbehörde; Krisenberatung in Einzel- und Gruppensupervision; didaktische Unterweisung, damit Lehrer lernen, wie man unterrichtet; pädagogische Konferenzen und psychologische Fortbildung; Lehrer-Schüler-Eltern-Gespräche am ”Runden Tisch”; Teilnahme an Lehrergruppen; Psychotherapie bei psychischen Erkrankungen. Bei fehlender Eignung für den Lehrberuf muss es Wege geben, Lehrer zu entlassen oder sie auf eine Stelle zu versetzen, auf der sie nicht mit Kindern in Berührung kommen. Eine Ursache dafür, dass in der Schule Menschenrechte nicht gleich Kinderrechte sind, ist die unzureichende Lehrer-Weiterbildung: Man hält die Kinder nicht für würdig, ihre Lehrer so auszubilden, dass sie lernwirksam unterrichten können und sich mit Jugendlichen identitäts-stützend und konflikt-bearbeitend einzulassen vermögen.

15. Unpädagogisches Lehrerverhalten wird durch unpädagogische Vorschriften staatlich verordnet
Lehrerinnen und Lehrer brauchen zivilen Mut zum sozialen Ungehorsam

Würdeloses Lehrerverhalten hängt auch mit ministeriellen Vorschriften zusammen. Unpädagogische Schulstrukturen begünstigen unpädagogisches Handeln: Das Zensuren-Unwesen führt zur befohlenen Verletzung kleiner Kinder; die Tyrannei des ”Stoffes” nimmt Sachen wichtiger als Menschen; die frühe Auslese unterwirft Kinder einem unerbittlichen Rivalitätsprinzip; die Diktatur der Prüfungen und unangesagten Proben jagt Schülern Angst ein. Die Gleichschaltung aller Kinder einer Schulklasse verstößt gegen das Grundrecht auf individuelle Entfaltung. Es kommt zur ”Pathologie der Normalität”, zum Beispiel in der widersinnigen ”Normalverteilung” der Zensuren innerhalb einer Klasse nach der Gauß’schen Normalverteilungskurve. Diese verbreitete „Vorschrift“, nach der es „Schlechte“ geben muss, entbehrt jeglicher wissenschaftlichen, schon gar erziehungswissenschaftlicher Grundlage. Gegen die in undemokratischen Schulstrukturen fest geschriebene Würdelosigkeit müssten Eltern, Lehrer und Schüler mit Zivilcourage eingreifen und die Politiker zum Handeln heraus fordern.

16. Die Würde des Schülers erfordert pädagogische und demokratische Schulstrukturen –
Folgerungen aus der PISA-Studie: „Die Menschen stärken, die Sachen klären“

Was die PISA-Studie über die bessere Leistungsfähigkeit der Schüler anderer Ländern aussagt, fordert zu schulpädagogischen Konsequenzen heraus:

  • Den Unterricht differenzieren nach der individuellen Leistungsfähigkeit der Schüler. Alle Kinder brauchen Erfolg: durch unterschiedliche Lernziele, die ihrer Begabung gemäß sind.

  • Beim Lernen ohne Noten werden Kinder aufmerksam in ihrer Ganzheit wahrgenommen. Sie erhalten ausführliche individuelle Informationen und Lernhinweise, die sie stärken.

  • Keine Auslese nach dem vierten Schuljahr, sondern gemeinsames Lernen bis zur 8.Klasse.

  • Kein Sitzen-Bleiben: Kinder nicht „sitzen lassen“, sondern auffangen, ihnen Halt geben und helfen.

  • Die Schüler anleiten, eigenständig zu denken, Informationen selbständig zu verarbeiten.

  • Lernen durch Handeln, Selbst-tätig-Sein: Arbeitsschule statt Rede- und Zuhörschule, Lernen wie man lernt. Lernschule statt Prüfschule mit ihrem ständigen Testen, Aus- und Abfragen.

  • Den Schwächeren helfen, statt sie durch schlechte Noten in ihrem Ich zu schwächen, partnerschaftlicher Unterricht statt Konkurrenz.

  • Nachhelfen im Schulunterricht, statt in außerschulischem, kommerziellen, von Eltern bezahlten Nachhilfeunterricht.

  • Zusammenarbeiten, statt Konkurrieren: Partner- und Kleingruppenarbeit, Kreisgespräch und Projektunterricht.

  • Interessen wecken und Schülerinteressen berücksichtigen durch lebensnahe Lerninhalte, die die Schüler „angehen“. Vertieftes Lernen, statt Unmengen „Stoff durchnehmen“.

  • Den Unterricht auch nach persönlicher Neigung und unterschiedlichen Interessen ausrichten.

  • Kein 45-Minuten-Takt, sondern ganzheitliches Lernen, an der Sache und dem Schüler orientiert.

  • Die individuelle Arbeitshaltung des einzelnen Kindes berücksichtigen, Arbeitstempo und unterschiedliche Lerntypen.

  • Die Lernmotivation unterstützen, Lernfreude als Unterrichtsziel anstreben.

  • Unterricht muss nicht „Spaß machen“, sondern Erfolg bescheren: „Das kann ich jetzt.“

  • Die Unterrichtsinhalte an den heutigen Lernwünschen der Jugendlichen orientieren.

  • Die Lern-Inhalte daran ausrichten, was für das Erwachsenenleben tatsächlich notwendig ist.

  • Als Eltern Interesse für das zeigen, was Kinder im Unterricht lernen, nicht nur für die Zensuren.

17. Das paradoxe Verhalten der „Verantwortlichen“ als Reaktion auf PISA:
Politiker und Bürger leiden an einer Lernstörung – Pädagogische Sachkenntnis wird verachtet

Derzeit sieht es so aus, als litten die Erwachsenen an einer schweren Lernstörung, denn sie planen das Gegenteil von dem, was PISA nahe legt. Zum Beispiel: In Ländern mit leistungsstarken Schülern gibt es keine Noten – bei uns sollen Kinder jedoch noch früher mit Ziffernnoten be- und entwertet werden. – Langes gemeinsames Lernen in einer Klasse scheint ein Merkmal zu sein, das die Leistung steigert – bei uns aber sollen die Schüler noch früher aussortiert und voneinander getrennt werden. – In Ländern mit guten Leistungen gibt es kein Sitzen-Bleiben – bei uns wird daran fest gehalten, Kinder „sitzen zu lassen“. – Unterschiedliche Anforderungen für unterschiedliche Schüler bringen bessere Leistungen – bei uns bleibt es jedoch beim Frontalunterricht. – Die Studie zeigt: es ist nicht Leistungsdruck, der zu guten Ergebnissen führt – aber viele Politiker, Schülereltern und Lehrer drängen auf noch mehr Leistungsdruck in immer noch früheren Jahren. – Es scheint, als habe die pädagogische Vernunft keine Chance, und es ist offenkundig, dass sich die Verantwortlichen kaum um pädagogisch-psychologische Sachkenntnis bemühen.

18. Jedes Kind braucht für seine Lern-Entwicklung Lernerfolg –
Unterschiedliche Anforderungen für unterschiedliche Kinder: durch Differenzierung

Nichts spornt den Lernwillen mehr an, als eine geglückte Leistung. Statt ständig Leistung messen zu müssen, sollten Lehrerinnen und Lehrer Leistung ermöglichen: durch individuelle Anforderungen, die für das Kind die Lernziele erreichbar machen. In einem differenzierenden Unterricht müssen nicht alle das Gleiche lernen, sondern jedes Kind leistet das ihm Mögliche. Am Ende des Unterrichts sollten die Schüler erkennen: „Ich habe etwas dazu gelernt.“ Lernerfolg ist der beste Garant für weiteren Erfolg, er motiviert Schüler zum Lernen.

19. Die Langsamkeit entdecken –
Schülerrecht auf das persönliche Lerntempo – Jedes Kind ist anders

Kinder sollen nachhaltig lernen, dazu brauchen sie Zeit. Lernen ist ein Wachstumsprozess, und Wachsen geht langsam vor sich. Wenn Lehrer sich selbst und die Kinder unter Zeitdruck setzen – „Schließlich muss ich meinen Stoff durchbringen“ – , kommt innere und äußere Unruhe auf. Den schuldlos Langsamen wird Unrecht zugefügt, nur weil sie langsam sind. Die „Entdeckung der Langsamkeit“ wäre eine kinderfreundliche Errungenschaft, sie würde auch Eltern und Lehrern gut tun. Schülerinnen und Schüler haben ein Recht auf das eigene Zeitmaß, denn Menschen sind verschieden, auch im Hinblick auf Langsamkeit und Schnelligkeit. „Gras wächst auch nicht schneller, wenn man daran zieht.“

20. Interesse wecken und persönliche Neigungen fördern –
Interesse ist Grundlage der Bildung

Kinder, die aus Interesse lernen, lernen nicht nur lieber, sondern leisten auch mehr. Eltern, Lehrerinnen und Lehrer sollten die Interessen der Kinder wahrnehmen, ihnen nachgehen und Interesse wecken. Wenn es ihnen gelingt, Schüler interessiert zu machen, schaffen sie eine wichtige Grundlage des Lernens. Es gehört zum Schlimmsten, was Schule anrichtet, wenn sich zeigt, dass das Lern-Interesse im Verlauf der Schuljahre nachlässt. Ohne Interesse gibt es keine Bildung. Denn der Gebildete ist ein Mensch, der seine Neugier wach hält, seine Ansprechbarkeit auf Unbekanntes bewahrt. Er bleibt auf der Suche nach Wissen und neuen Erfahrungen; das stärkt seine Leistungsfähigkeit.

21. Mit Zivilcourage für die Würde des Schülers eintreten – und für die des Lehrers –
In der Schule mehr Demokratie wagen

Dazu ist notwendig, dass Lehrer ihre pädagogische Freiheit beanspruchen. Es gilt, die Würde der Schüler gegen die bürokratische Schulverwaltung zu verteidigen. Dazu bedarf es lernpsychologischer Aufgeklärtheit, persönlicher Mitfühlfähigkeit engagierter Lehrer, und des sozialen Mutes der Schülereltern. Alle bräuchten mehr Zivilcourage: den Mut, öffentlich zur humanen Überzeugung zu stehen und sich einzumischen, um in der Schule mehr Demokratie zu verwirklichen.

22. Schüler-politische Vorschläge für eine neue Ethik des Zusammenlebens in der Schule –
Schüler brauchen das Engagement von Politikern

  • Am Thema ”Macht-Missbrauch von Lehrern” ein Problembewusstsein für Menschenrechte in der Schule wecken; die Tabuierung verletzenden Lehrerverhaltens zum politischen Thema machen.

  • Die von den Vereinten Nationen proklamierten Rechte des Kindes auf die Schule anwenden: Auch die Würde des Schülers ist unantastbar. Dieses Grundrecht muss durch Schulgesetze geschützt werden.

  • Mehr Demokratie für mehr Humanität wagen: Schüler demokratisches Handeln praktisch erfahren lassen, sie anleiten, demokratisch mitzuwirken..

  • Die Rechte der Schüler stärken. Kinder und Jugendliche sollen in allen sie betreffenden Fragen mitbestimmen: bei Lernstoffauswahl, Unterrichtsmethode und schulischem Zusammenleben.

  • Kindern das Recht auf Kritik an Lehrern einräumen, auch was den pädagogischen Takt betrifft.

  • In allen Schulfragen, die das Wohl ihrer Kinder betreffen, sollen die Eltern mit entscheiden.

  • Seelische Züchtigung verbieten, nicht nur körperliche: Bloßstellung, Beleidigung, Entwertung, Demütigung, Auslachen, psychische Verletzung sind Straftaten.

  • Schülern Möglichkeiten schaffen, seelischer Gewalt von Lehrern auszuweichen: durch Lehrer- und Schulwechsel oder Lehrerwahl.

  • Neutrale Instanzen für Schülerhilfe schaffen: Kontakttelefon, unabhängige Beratungsstellen, psychosoziale Betreuung.

  • Schülern Rechtsschutz gewähren. Stellen dafür einrichten, Kindern juristisch beizustehen, wenn sie rechtswidrig behandelt werden und Hilfe brauchen, wie auch ihre Lehrer Rechtsschutz genießen.

  • Lehrern verpflichtende lebenslange Lehrerfortbildung anbieten: für unterrichtliche Kompetenz und konflikt-bearbeitenden Umgang mit Jugendlichen.

  • Schülerbeauftragte ernennen: Ombudsfrau oder Ombudsmann wachen politisch über die Einhaltung demokratischer Grundrechte gegenüber Schülern, so wie dies Wehrbeauftragte, Ausländerbeauftragte, Frauenbeauftragte für ihre Gruppe abhängiger Bürger tun.

23. Selbstverpflichtung zu einer pädagogischen Ethik: „Lehrer-Eid“ –
Verantwortung für das Lernen der Kinder übernehmen – und für ihre Unversehrtheit

Auch die Würde des Schülers muss unantastbar sein. Der Gründer der Bielefelder Laborschule, Hartmut von Hentig, schlägt vor: So wie Ärzte den hippokratischen Eid, sollten auch Lehrer einen Eid leisten: eine Selbstverpflichtung, in der sie versprechen, jedes Kind in seinen Eigenheiten zu respektieren, für seine körperliche und seelische Unversehrtheit einzustehen, seine Regungen zu achten, ihm zuzuhören, es ernst zu nehmen. Lehrer verpflichten sich, Schüler die Kunst der Verständigung und des Verstehens zu lehren, sie bereit zu machen, für die Gemeinschaft Verantwortung zu tragen. Sie leben vor, wie man mit Schwierigkeiten zurecht kommt, sich der Kritik der Schüler und Sachkundigen stellt, und sich allen Verhältnissen widersetzt – auch Dienstvorschriften – welche die humanen Vorsätze verhindern. – Ein solcher Eid gäbe engagierten Lehrerinnen und Lehrern Richtung und Unterstützung in ihrem wert-erfüllten pädagogischen Handeln. Für Kinder garantierte er eine zugewandte Lernumwelt.

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