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Prof. Dr. Kurt Singer - Leitgedanken

Erwartungen von Eltern und Lehrern an die Kinder
Wie wirken sie sich auf das Lernen aus?
Können sie die Leistungsfreude und den Lernwillen unterstützen?

1. Erwartungen von Eltern und Lehrern beeinflussen das Lernen der Kinder

Eltern und Erzieher haben an Kinder bewusste und unbewusste Erwartungen. Sie fördern damit das Lernen oder stören es. Lernschwierigkeiten und Schulnöte hängen oft mit überfordernden Erwartungen zusammen. Schülerinnen und Schüler geraten unter seelischen Druck, wenn sie die Ansprüche von Eltern und Lehrern nicht erfüllen können. Erwartungen beeinflussen das Lernen aber auch positiv: die Kinder werden herausgefordert, sich selbst Ziele zu stecken, die erreichbar sind.

2. Positive Erwartungen stärken das Selbstwertgefühl und die Leistungsfähigkeit

Es beflügelt das Lernen, wenn Eltern ihren Kindern etwas zutrauen. Schüler fühlen sich ernst genommen und in ihrer Hoffnung auf Erfolg bestärkt. Der Ansporn wirkt aber nur, wenn die Erwartungen den Fähigkeiten des Kindes angemessen sind. Eltern, Lehrerinnen und Lehrer sollten bedenken: Nur in hoffnungsvoller Stimmung können Kinder gut arbeiten. Dazu brauchen sie individuell erreichbare Lernziele. Zuversicht wirkt sich zudem gesund machend auf Körper und Seele aus.

3. Das „gute Wort“ schafft ein Klima ermutigender Erwartung und bestärkt Kinder im Lernen

Die anerkennende Bemerkung macht Schülern bewusst, dass sie etwas geschafft haben und akzeptiert werden. Das stärkt den Glauben an sich selbst. Eltern und Lehrer sollten Kinder nicht nur loben, sondern genau hinsehen und an-erkennen, was sie geleistet haben. Das aufrichtende Wort beflügelt und macht zuversichtlich. Die hoffnungsvolle Erwartung weckt Lern-Energie. Schüler, die für ihre Leistung anerkannt werden, verbessern ihre Leistungen. Bei fortwährendem Tadel hingegen sinkt die Leistungsfähigkeit. Besonders gering ist das Leistungsvermögen, wenn Kinder und Jugendliche „übersehen“, also nicht beachtet werden.

4. Mit Lernberichten werden Kinder unterstützend wahrgenommen – Ziffernzensuren stören

Die Wortbeurteilung wendet sich aufmerksam an das Kind als ganze Person. Sie teilt ihm seinen persönlichen Lernfortschritt genau mit, zeigt ihm auf, wo seine Stärken liegen, welche Schwächen es bearbeiten muss, wie ihm Lehrer dabei helfen können, Mängel beim Lernen zu beheben. Die lernstörende Notenangst entfällt. PISA zeigt auf: Schüler in den Ländern in denen es bis zur 8. oder 10.Klasse keine Noten, sondern Lernberichte gibt, erreichen bessere Leistungen als die in Deutschland.

5. Überfordernde Erwartungen entmutigen – „Er könnte mehr leisten wenn er wollte“?

Wenn Kinder durch zu hohe Erwartungen unter Druck geraten, kommt es zu Angst vor Versagen und zu Misserfolg. Die Kinder werden deprimiert, weil sie gern mehr leisten wollen, aber nicht können. Die anspannende Überforderung blockiert das Lernen, denn in einer angstbesetzten Stimmung leisten Kinder oft nur halb so viel, wie in einem ermutigenden Lernklima. Der Satz „Du könntest schon, wenn du wolltest“, hat schon manchen Schüler zur Verzweiflung gebracht.

6. Erwartungs-Druck kann seelisch und psychosomatisch krank machen

Der Druck von Erwartungen kann in Kindern und Jugendlichen seelische und psychosomatische Störungen verursachen: Angstzustände und Schlaflosigkeit, Bauchweh, Kopfschmerz, Konzentrationsschwäche und Lernverweigerung, Zähneknirschen, Nägelbeißen, Einnässen, zu hoher Blutdruck und Muskelverspannungen. In diesen Symptomen drückt sich die seelisch nicht mehr zu verkraftende Dauerspannung aus. Die seelische Verspannung verwandelt sich in körperlichen Schmerz.

7. Bewusste und unbewusste Erwartungsfantasien der Eltern können hilfreich oder hinderlich sein

Eltern weisen den Kindern manchmal Rollen zu, ohne es zu merken; sie wollen damit eigene unerfüllte Wünsche verwirklichen. Das Kind soll elterliches Abbild werden: „Es muß so werden wie ich“, elterliche Ideale erfüllen: „Es soll erreichen, was ich nicht geschafft habe“, die elterliche Lebensgeschichte korrigieren: „Sie soll es einmal besser haben.“ – Wenn Eltern solche Erwartungsfantasien bewusst wahrnehmen, verzerren sie nicht unbewusst die Beziehung zu den Kindern. Die Erinnerung an die eigene Kindheit hilft, sich besser in sich selbst und in Kinder einzufühlen.

8. Die dem Kind auferlegte Rolle kann es belasten und seine persönliche Entwicklung stören

Elterliche Erwartungen sind normal; sie fördern die Entwicklung, wenn sie der Wirklichkeit des Kindes entsprechen. Wenn sie jedoch das Kind zum Erfüller elterlicher Ideale machen, oder wenn das Kind durch Erfolg das Selbstgefühl der Eltern heben soll, bedeutet das eine schwere Bürde für Kinder. Erwartungen entstammen gelegentlich einer unbefriedigenden Lebenssituation der Eltern. Deshalb ist es wichtig, sich als Mutter und Vater zu fragen: Bin ich mit meinem Leben zufrieden? – Wenn die Erwachsenen ihre eigenen Lebenswünsche verwirklichen, entlastet das die Beziehung zu den Kindern.

9. „Du sollst Dir kein Bildnis machen“ – Jugendliche in ihrer Einmaligkeit wahrnehmen

Eltern, Erzieherinnen und Lehrer sollten keine negativen Vor-Urteile pflegen; denn diese schränken die Entwicklung der Kinder ein. Es gilt, die persönlichen Möglichkeiten des Kindes herauszufinden, seiner spontanen Lernentwicklung nachzufolgen. Anstatt zu „erziehen“, schaffen sie eine „helfende Beziehung“. Diese schreibt nicht vor, sondern entdeckt und unterstützt die Anlagen des Kindes.

10. Erwartungen von Lehrerinnen und Lehrern: Erwartete Tüchtigkeit kann tüchtiger machen

Untersuchungen zeigten: Lehrerinnen und Lehrer, die an Schüler die Erwartung „gute Intelligenz“ herantragen, bewirken bei diesen, dass sie ihre Leistungsfähigkeit steigern. Die Kinder verändern nicht ihre Intelligenz, aber sie schöpfen diese aus. Bei der Lehrer-Erwartung „schlechte Intelligenz“ hingegen vermindert sich die Leistungsfähigkeit. So kann es für Schüler schicksalhaft werden, mit welcher Erwartung Lehrerinnen an sie herangehen. Positive Vor Urteile spornen Kinder an.

11. Sich selbst erfüllende Prophezeiung - Die Voraussage prägt das erzieherische Verhalten

Unter dem Begriff „self-fulfilling-prophecy“ hat man folgende Erscheinung zusammengefasst: Durch das Bild, das sich Eltern, Erzieherinnen und Lehrer von Kindern machen, verstärken sie das Verhalten, das sie erwarten. Sie lenken das Kind in die erwartete Richtung. Es kommt zur „sich selbst erfüllenden Prophezeiung“: Eltern und Lehrer sagen etwas voraus, wovon sie meinen, dass es eintreffen wird. Sie verhalten sich durch ihre Erwartung so, dass die Voraussage wirklich werden kann.

12. Taktvoller und achtsamer Umgang mit Kindern schafft ein Lernklima positiver Erwartung

Bei taktvollem Eltern- und Lehrerverhalten können Kinder sicher sein, nie bloßgestellt, ausgelacht, nicht unvorhergesehen aufgerufen und ausgefragt zu werden. Schüler werden nicht beschämt, Zensuren und Fehler nicht öffentlich preis gegeben; Korrekturen erfolgen behutsam, um Schülerarbeiten nicht zu entwerten. Taktvolle Eltern und Lehrer vermeiden es, Schwächen von Jugendlichen vor anderen aufzuzeigen, Kinder durch Ironie oder Spott zu beleidigen.

13. Fehlerfreundlichkeit, ein Lernprinzip – Aus Fehlern lernen, statt Kinder damit entwerten

Die Erwartung, alles richtig machen zu müssen, kann Kinder in ängstliche Anspannung versetzen. Lernfreude geht verloren, wenn Eltern und Lehrer Fehler wie einen Feind bekämpfen. Fehlerfreundlichkeit ist ein Unterrichtsprinzip, das Kinder im Denken und in ihrer schöpferischen Fantasie unterstützt. Fehler werden nicht angekreidet – womöglich als rotes Schlachtfeld im Schülerheft. Sie werden zum Anlass genommen, aus den Fehlern zu lernen, statt Kinder damit zu bewerten oder zu verurteilen. Fehlleistungen sind für die Entwicklung notwendig, wer nichts versucht, macht keine Fehler. Aus den Fehlern ersehen die Erwachsenen, wo die Kinder stehen und wie sie ihnen weiter helfen können.

14. Zuversichtliche Erwartungen sollten pädagogisches Gebot für Eltern und Lehrer sein

Weil wir nie sicher wissen, welche Anlagen sich im Kind entwickeln können, lautet das pädagogische Gebot: „Handle immer so, als ob aus deinem Kind mehr werden könnte, als es gerade scheint.“ Wir sollten den Schülern - außer dem Grundwissen - viele Lernmöglichkeiten anbieten, um zu erkennen, was sie ihrer Person gemäß ausbilden können. Das Kind braucht Herausforderungen, die es bewältigen und an denen es Kraft entfalten kann. Verwöhnendes Erzieherverhalten macht ich-schwach, Kinder in allem gewähren zu lassen, macht orientierungslos und unsicher.

15. Kindern zu Lernerfolg verhelfen –Voraussetzung für Lernzuversicht und weiteren Erfolg

Nichts spornt Kinder in ihrem Lernwillen mehr an, als eine geglückte Leistung. Eltern und Lehrer sollten nicht ständig Leistung messen, sondern Leistung ermöglichen: durch individuelle Anforderungen, die das Lernziel erreichbar machen. Nicht alle Kinder müssen das Gleiche lernen, sondern jedes Kind leistet das ihm Mögliche. Am Ende des Lernens sollten Schüler erkennen: „Ich habe etwas dazu gelernt.” Das befriedigende Gefühl, etwas verstanden zu haben, regt zum Weiterlernen an.

16. Lernen geht nicht ohne Zwang – Arbeitsdisziplin und gute Lerngewohnheiten einüben

Um den Lernwillen zu stärken, müssen wir Kinder auch dazu anhalten, „gegen den Strich“ zu lernen. Zwang als Unterstützung des Ichs sollte für die Schüler einsichtig sein, dann kann er seine Lernmotivation beleben. Es geht nicht darum, Kinder zu unterdrücken oder zu entwerten, sondern sie erfahren zu lassen: Das habe ich geschafft, obwohl es mir schwer fiel. Sie werden gestärkt, den inneren Widerstand zu überwinden und erleben dadurch, eine Aufgabe zu bewältigen. Lernen soll Freude machen, aber auch Lernen ohne Lust ist nötig; es stärkt in Kindern die Bereitschaft, sich anzustrengen. Eine gute Arbeitsdisziplin und gute Lerngewohnheiten erleichtern dem Kind das Leben.

17. Interesse wecken und persönliche Neigungen entdecken – Bildung: Auf der Suche nach Wissen

Kinder, die interessiert lernen, lernen nicht nur lieber, sondern leisten auch mehr. Eltern und Lehrer sollten Interessen der Kinder wahrnehmen, ihnen nachfolgen und Interesse wecken. Wenn es gelingt, Schüler zu interessieren, schaffen wir eine wichtige Grundlage des Lernens. Es zählt zum Schlimmsten, was Schule anrichtet, wenn das Lern-Interesse im Verlauf der Schulzeit nachlässt. Ohne Interesse gibt es keine Bildung. Der Gebildete ist ein Mensch, der seine Neugier wach hält, seine Ansprechbarkeit auf Unbekanntes bewahrt. Er bleibt auf der Suche nach Wissen und neuen Erfahrungen.

18. Sich als Eltern für das Lernen der Jugendlichen interessieren – Anteil nehmen

Mütter und Väter sollten sich für das interessieren, was Kinder im Unterricht lernen; nicht ausfragend und kontrollierend, sondern Anteil nehmend: durch aufmerksames Begleiten der schulischen Arbeit, durch das ermutigende Wort, das Wahrnehmen des Lernfortschritts und das Erleben-Lassen, dass die Kinder vorangekommen sind: durch Miteinander-Reden über Gelerntes, durch Hilfe, wenn sich das Kind hilflos fühlt, durch Akzeptieren auch der außerschulischen Aktivitäten.

19. Schule und Familie können ein Klima positiver Erwartung schaffen

  • Individuelle Anlagen, Begabungen und Persönlichkeitsmerkmale erfordern unterschiedliche Leistungsangebote. Durch differenzierenden Unterricht können Kinder entsprechend ihrer Lernfähigkeit Erfolg erleben, der macht sie zuversichtlich und lernbereit. Es lernen nicht alle das gleiche, sondern jeder lernt, das für ihn Erreichbare und erlebt damit Erfolg.

  • In vielseitigen Lehrer-Schüler-Kontakten und in der Eltern-Kind-Beziehung lernen Lehrer und Eltern die Kinder kennen – nicht nur als Schüler, sondern mit ihrer ganzen Person. Sie entdecken individuelle Anlagen.

  • Kinder und Lehrer brauchen kleine Klassen mit 15 bis 20 Schülern. Nur in überschaubaren Lerngruppen ist es möglich, die helfende pädagogische Beziehung aufzubauen, in der Lehrerinnen und Lehrer auf die Eigen-Art jedes Schülers eingehen können und Lernhelfer sind.

  • Die Zusammenarbeit zwischen Eltern, Lehrern und Schülern in Einzelgesprächen und im Gruppengespräch, auf Elternabenden, bei gemeinsamen Veranstaltungen, in Eltern-Lehrer-Gruppen erleichtert es, Kinder kennen zu lernen, Verständnis für ihre Person aufzubringen.

  • Im interessen-geleiteten Unterricht entwickeln Schüler persönliche Neigungen. Sie erleben das Lernen als interessant und steigern dadurch ihren Lernwillen. Wer aus Interesse lernt, lernt nicht nur lieber, sondern leistet auch mehr. Dabei zählen nicht nur Schulfächer, sondern auch Lernbereiche, die die Heranwachsenden aus persönlichen Beweggründen heraus wählen.

  • Die individuelle Leistungsbeurteilung lässt Kinder ihren persönlichen Lernfortschritt erleben – anstatt der an Rivalität orientierten Zensuren. Ziffernnoten bedeuten für viele Kinder Bedrohung, Entmutigung, Demütigung und Festlegung. Sie müssen wenigstens bis zum sechsten Schuljahr abgeschafft werden.

  • Kinder brauchen eine Lernsituation, in der sie Fehler machen dürfen. Fehlerfreundlichkeit ist eine Voraussetzung für ein Klima positiver Erwartung. Der Fehler dient nicht der Be- oder Verurteilung, sondern dem zielstrebigen Weiterlernen. Fehler werden als Lernerfahrung betrachtet, die weiterhilft.

  • Durch selbstbestimmtes Lernen im offenen Unterricht und in Freiarbeit erleben Kinder ihre eigene Aktivität und ihre besonderen Fähigkeiten. Anstelle des aufgefächerten und in 45 Minuten-Stunden zerhackten Unterrichts tritt ganzheitliches Lernen mit Partner , Kleingruppenarbeit, Kreisgespräch und Projektunterricht.

  • Kinder sollten ziel-erreichend lernen dürfen: Jedes Kind kann in seinem Arbeitstempo, in seinem Lernstil lernen, bis es am erreichbaren Ziel angekommen ist. Schule sollte Leistungsmöglichkeiten der Kinder entdecken und mögliche Entwicklungen aufgreifen.

  • Einseitige theoretische Unterweisung muss zugunsten praktischen Handelns überwunden werden, damit jene Kinder nicht benachteiligt werden, die mehr zum praktischen Lernen neigen.

  • Kinder sollen möglichst lang – mindestens bis zum 6. Schuljahr – gemeinsam lernen. Frühe Auslese vermindert Entwicklungsmöglichkeiten, sie ist mit lernstörenden Trennungssituationen verbunden. Nicht nur Begabte sollen gefördert, sondern auch die weniger Begabten unterstützt werden.

20. Die Kindheit als jetzt gültige Lebensform bejahen – Das Recht, ein Kind zu sein

Kindheit darf nicht „Einübung des Lebenskampfes der Erwachsenen“ sein. Vielmehr müssen wir das „Hier und Jetzt“ der jeweiligen Altersstufe akzeptieren. Das heutige Glück des Kindes ist maßgebend für sein künftiges. Die jetzt entwickelte Ich Stärke ist wichtiger als die Frage nach dem, was es später braucht. Um keinen Preis dürfen Eltern, Lehrerinnen und Lehrer durch ihre Erwartungen die Gegenwart der Kinder irgendeiner Zukunft opfern.

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