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Prof. Dr. Kurt Singer - Leitgedanken

Schule und PISA – Auf dem Weg zu einer pädagogischen Schule?
Pädagogische Konsequenzen für Eltern, Lehrer, Schüler und Politiker

Wie können Schüler zufrieden leben, leichter lernen und mehr leisten?
Leiden Politiker und Bürger an einer Lernstörung,
die vernünftiges pädagogisches Handeln unmöglich macht?

1. Deutsche Schüler leisten zu wenig – Und wie geht es den Kindern dabei?

Die Botschaft von den unbefriedigenden Leistungen deutscher Schüler beunruhigt die Öffentlichkeit. Dagegen fanden Untersuchungen über das Befinden der Kinder kaum Echo: über ihre Schulängste, den Leistungsdruck, über psychosomatische und seelische Störungen, abnehmendes Lern-Interesse. Der einseitige Blick auf die objektive Leistung wird Kindern nicht gerecht. Die ganzheitliche Frage ist: Wie gut können Schüler in der Schule leben und lernen? Reaktionen auf PISA vermitteln den Eindruck, das Leistungsdenken werde noch verstärkt. Nötig wäre jedoch, nach den pädagogischen Grundlagen zu fragen, die Schüler leistungsfähig machen.

2. Pädagogisches Handeln nach PISA: „Die Menschen stärken, die Sachen klären“

Welche Folgerungen können wir aus der PISA-Studie für die Leistungsfähigkeit der Schüler ziehen?

  • Den Unterricht differenzieren nach der individuellen Leistungsfähigkeit der Schüler. Alle Kinder brauchen Erfolg: durch unterschiedliche Lernziele, die ihrer Begabung gemäß sind.

  • Beim Lernen ohne Noten werden Kinder aufmerksam in ihrer Ganzheit wahrgenommen. Sie erhalten ausführliche individuelle Informationen und Lernhinweise, die sie stärken.

  • Keine Auslese nach dem vierten Schuljahr, sondern gemeinsames Lernen bis zur 8.Klasse.

  • Kein Sitzen-Bleiben: Kinder nicht „sitzen lassen“, sondern auffangen und ihnen Halt geben.

  • Die Schüler anleiten, eigenständig zu denken, Informationen selbständig zu verarbeiten.

  • Lernen durch Handeln, Selbsttätig-Sein: Arbeitsschule statt Rede- und Zuhörschule, Lernen wie man lernt. Lernschule statt Prüfschule mit ihrem ständigen Testen, Aus- und Abfragen.

  • Den Schwächeren helfen, statt sie durch schlechte Noten in ihrem Ich zu schwächen. Zusammenarbeit, partnerschaftlicher Unterricht statt Konkurrenz.

  • Nachhelfen im Schulunterricht, statt in außerschulischem, kommerziellen, von Eltern bezahlten Nachhilfeunterricht.

  • Interessen wecken und Schülerinteressen berücksichtigen durch lebensnahe Lerninhalte, die die Schüler „angehen“. Vertieftes Lernen, statt Unmengen „Stoff durchnehmen“ - zum Vergessen.

  • Den Unterricht nach Neigung und persönlichen Interessen ausrichten.

  • Kein 45-Minuten-Takt, sondern ganzheitliches Lernen.

  • Die individuelle Arbeitshaltung des einzelnen Kindes berücksichtigen.

  • Die Lernmotivation unterstützen, Lernfreude als Unterrichtsziel anstreben.

  • Die Unterrichtsinhalte an den heutigen Lernwünschen der Jugendlichen orientieren.

  • Die Lern-Inhalte daran ausrichten, was für das Erwachsenenleben notwendig ist.

  • Als Eltern Interesse für das zeigen, was Kinder im Unterricht lernen, nicht nur für die Zensuren.

3. Leiden Politiker und Bürger an einer Lernstörung? – Fehlende pädagogische Sachkenntnis

Derzeit sieht es so aus, als litten die Erwachsenen an einer schweren Lernstörung, denn sie planen das Gegenteil von dem, was PISA nahe legt. Zum Beispiel: In Ländern mit leistungsstarken Schülern gibt es keine Noten – bei uns aber sollen Kinder noch früher mit Ziffernoten bekommen. Langes gemeinsames Lernen in einer Klasse scheint ein Merkmal zu sein, das die Leistung steigert – bei uns aber sollen die Schüler noch früher aussortiert und voneinander getrennt werden. In Ländern mit guten Leistungen gibt es kein Sitzen-Bleiben – bei uns wird am Sitzen-Lassen fest gehalten. Unterschiedliche Anforderungen für unterschiedliche Schüler bringen bessere Leistungen – bei uns bleibt es beim Frontalunterricht. Die Studie zeigt, dass Leistungsdruck nicht zu guten Ergebnissen führt – aber viele Politiker, Schülereltern und Lehrer drängen auf noch mehr Leistungsdruck. Es scheint, als habe die pädagogische Vernunft keine Chance und bemühten sich die Verantwortlichen kaum um pädagogisch-psychologische Sachkenntnis.

4. Leistung nicht durch Leistungsdruck, sondern einen lebendigen und humanen Unterricht

PISA erinnert an reformpädagogische Forderungen, wie sie seit hundert Jahren erhoben, aber nur in besonderen Schulen verwirklicht werden. Dass eine humane Schule nicht nur das Lernklima verbessert, sondern auch die Leistungsfähigkeit steigert, zeigt der PISA-Test an Reformschulen, zum Beispiel an der Bielefelder Laborschule. In diesem „Haus des Lernens“ mit guten Leistungen gibt es

  • keine Ziffernnoten, sondern ausführliche hilfreiche Empfehlungen

  • kein Sitzen-Bleiben, dafür ein „Aufgefangen- und Gehalten-Werden“

  • individualisierenden Unterricht, Kinder lernen auf persönlichem Leistungsniveau

  • keinen 45-Minuten-Takt, sondern ganzheitliches Lernen

  • Zusammenarbeiten, statt Konkurrieren, Partner-, Kleingruppenarbeit, Kreisgespräch

  • Lernen in altersgemischten Gruppen, der Klassenverband kann aufgelöst werden

  • Unterricht muss nicht „Spaß machen“, sondern Erfolg bescheren: „Das kann ich jetzt“

5. Jedes Kind braucht Lernerfolg – Unterschiedliche Anforderungen durch Differenzierung

Nichts spornt den Lernwillen mehr an, als eine geglückte Leistung. Statt ständig Leistung messen zu müssen, sollten Lehrerinnen und Lehrer Leistung ermöglichen: durch individuelle Anforderungen, die für das Kind die Lernziele erreichbar machen. In einem differenzierenden Unterricht müssen nicht alle das Gleiche lernen, sondern jedes Kind leistet das ihm Mögliche. Am Ende des Unterrichts sollten die Schüler erkennen: „Ich habe etwas dazu gelernt.“ Lernerfolg ist der beste Garant für weiteren Erfolg, er motiviert Schüler zum Lernen.

6. Die Langsamkeit entdecken – Das Schülerrecht auf das persönliche Lerntempo

Kinder sollen nachhaltig lernen, dazu brauchen sie Zeit. Lernen ist ein Wachstumsprozess, und Wachsen geht langsam vor sich. Wenn Lehrer sich selbst und die Kinder unter Zeitdruck setzen – „Schließlich muss ich meinen Stoff durchbringen“ - , kommt innere und äußere Unruhe auf. Den schuldlos Langsamen wird Unrecht zugefügt, nur weil sie langsam sind. Die „Entdeckung der Langsamkeit“ wäre eine kinderfreundliche Errungenschaft, sie würde auch Eltern und Lehrern gut tun. Schülerinnen und Schüler haben ein Recht auf das eigene Zeitmaß, denn Menschen sind verschieden, auch im Hinblick auf Langsamkeit und Schnelligkeit.

7. Interesse wecken und persönliche Neigungen fördern – Interesse gehört zur Bildung

Kinder, die aus Interesse lernen, lernen nicht nur lieber, sondern leisten auch mehr. Eltern, Lehrerinnen und Lehrer sollten die Interessen der Kinder wahrnehmen, ihnen nachgehen und Interesse wecken. Wenn es ihnen gelingt, Schüler interessiert zu machen, schaffen sie eine wichtige Grundlage des Lernens. Es gehört zum Schlimmsten, was Schulen anrichten, wenn sich zeigt, dass das Lern-Interesse im Verlauf der Schulzeit nachlässt. Ohne Interesse gibt es keine Bildung. Denn der Gebildete ist ein Mensch, der seine Neugier wach hält, seine Ansprechbarkeit auf Unbekanntes bewahrt. Er bleibt auf der Suche nach Wissen und neuen Erfahrungen; das stärkt seine Leistungsfähigkeit.

8. Pädagogischer Takt: Achtungsvoller Umgang mit Kindern – Lernklima der Rücksichtnahme

Taktvoll miteinander umzugehen beruht auf der Achtung vor der Würde des Menschen. Die ungleiche Situation zwischen Kindern und Erwachsenen erfordert, sich in Kinder einzudenken, Rücksicht vorzuleben und die Schüler zu Rücksicht anzuleiten. Bei Lehrern mit pädagogischem Takt können Kinder sicher sein, nie bloßgestellt, nicht unvorhergesehen aufgerufen zu werden, sondern nur, wenn sie sich melden. Schüler werden nicht ausgelacht und beschämt, Zensuren nicht vor anderen bekannt gegeben. Taktvolle Lehrerinnen bemängeln Fehler nicht öffentlich; sie korrigieren behutsam, um die Schülerarbeit nicht zu entwerten. Fehler-Freundlichkeit ist Unterrichtsprinzip: Aus Fehlern lernen, statt Kinder damit zu verurteilen. Taktvolle Lehrer vermeiden es, geistige und körperliche Schwächen von Jugendlichen aufzuzeigen, sie erniedrigen Kinder nicht durch Ironie, Schimpf- und Spottnamen. Sie bringen den Schülern so viel Achtung entgegen wie den Erwachsenen. Wenn man mit Kindern achtsam umgeht und sie ernst nimmt, können sie mehr leisten.

9. Kinder brauchen ein pädagogisches Leistungsverständnis – statt des konkurrierenden

Das Leistungsprinzip der „Leistungsgesellschaft“ wird der kindlichen Entwicklung nicht gerecht. Es schädigt das Lernen, wenn das konkurrenzorientierte ökonomische Leistungsprinzip auf schulisches Lernen übertragen wird. Die Leistung der Schüler darf nicht an einem für alle gültigen Maßstab, sondern muss am individuellen Lernfortschritt gemessen werden. Nur ein pädagogisches Leistungsverständnis macht Kinder leistungsstark. Es berücksichtigt Grundbedingungen des Lernens: Individualität, Entwicklung, Lernbereitschaft, Gemeinschaft, Lebensbezogenheit, Sinngebung, Verantwortung.

  • Das pädagogische Leistungsverständnis orientiert sich daran, dass Leistung die Entwicklung des einzelnen Kindes unterstützt, ohne die Schüler an anderen zu messen.

  • Es ermöglicht Schülern die erreichbare Leistung; sie erleben ihr individuelles Lernwachstum.

  • Durch den persönlichen Lernfortschritt erfahren die Schülerinnen und Schüler Leistungsbewusstsein, Leistungsglück und Verantwortung für ihre Leistung.

  • Das pädagogische Leistungsprinzip erkennt nicht nur die individuelle, sondern auch die gemeinschaftlich erbrachte Leistung an: das, was Kinder miteinander schaffen.

  • Die Schülerleistung wird nicht Anlass, Kinder zu beurteilen oder zu verurteilen; sie zeigt den Stand der Lern-Entwicklung an, von dem aus das Kind gefördert werden muss. An Stelle der Zensur tritt Anleitung und Unterstützung zu weiterem Lernen.

  • Leistung besteht nicht nur darin, sich Lerninhalte anzueignen. Junge Menschen sollten Kräfte und Fähigkeiten entwickeln, die sie selbständig machen.

  • Interesse, Lernbereitschaft und Lernfreude sind bedeutsame Elemente des pädagogischen Leistungsverständnisses. Die entscheidende Frage ist: Werden Kinder durch ihre Leistung motiviert, von sich aus weiter zu lernen?

  • Leistung im pädagogischen Sinn macht Mut zum Leben; sie ist mit Sinngebung verbunden.

  • Pädagogischer Leitsatz muss sein: Nicht überfordern und nicht unterfordern. Jede Lernsituation, in der sich Leistungsversagen von Klassen, Gruppen und einzelnen Kindern zeigt, ist so umzuwandeln, dass die Schüler Lernerfolg haben.

10. Schüler können ohne Noten lieber lernen und mehr leisten – Informieren, helfen, ermutigen

Den Ziffernnoten fehlen die pädagogischen Elemente: Schüler aufmerksam wahrnehmen, sie anerkennen, ermutigen und unterstützen. Schüler, die sich im Lernen schwer tun, werden durch die „gerechten“ schlechten Noten dauerhaft entmutigt. Die organisierte Demütigung der Schwachen schwächt die ohnehin Benachteiligten. Ziffernnoten lenken vom Lernen um der Sache willen ab. Der Leistungsdruck durch Noten ruft Versagensängste hervor. Zensuren schüren das Konkurrenzdenken und behindern partnerschaftliches Lernen. Der andere Weg ist:

  • Den individuellen Lernfortschritt aufzeigen. Die Lernfortschritts-Beurteilung verschafft Kindern Leistungsbewusstsein; das fördert die persönliche Leistung und Motivation.

  • Ausführliche Lernberichte informieren Schüler genau über ihren Leistungsstand.

  • Lernberichte machen Schwächen und Stärken bewusst und geben Hinweise auf die weiteren Lernwege. Dadurch entwickeln die Schüler Maßstäbe für eine gute Leistung.

  • Sie beachten das Kind als ganze Person, die Anstrengung, Fähigkeit zum Zusammenarbeiten, die Lernbereitschaft, das Arbeitsverhalten, besondere Neigungen.

PISA bestätigt die gesicherte lernpsychologische Erkenntnis: Für eine kinderfreundliche und lernwirksame Schule müssen an die Stelle von Ziffernnoten Lernberichte treten.

11. Nachhilfe gehört in den Schulunterricht – nicht in von Eltern bezahlten Nachhilfeunterricht

20 – 30 Prozent der Gymnasiasten benötigen Nachhilfe. Diese beginnt bereits in der Grundschule. Ein Heer von Nachhilfe-Lehrern, Nachhilfe-Müttern, Pauk-Instituten, Hausaufgabenbetreuern, Dyskalkulie-Therapeuten... übernimmt um teures Geld Lernhilfe, die in die Schule gehörte. Wäre PISA noch schlechter ausgefallen ohne die private Schülerhilfe? Es scheint, als könnte das Gymnasium schwer bestehen, wenn nicht kommerzielle Unternehmen den Schulnotstand eines Teil der Schüler linderten. Erstaunlich, dass die Schule diesen Tatbestand nicht als Versagen erkennt – und dass Eltern die Belastung ohne Protest hinnehmen. „Nachhilfe“ gehört in die Schule. Lehrer müssen Verantwortung für das Lernen übernehmen, nicht nur für die Erfüllung des Stoffplans. Lehrersein ist ein helfender Beruf. Kindern beim Lernen zu helfen, ist die Aufgabe von Lehrerinnen und Lehrern.

12. Kinder bräuchten Eltern, die mit Zivilcourage für eine lernwirksame Schule eintreten

Viele Schülereltern erkennen: Wenn Kinder Schulangst haben, unter Leistungsdruck stehen, wenn sie kein Interesse entwickeln, zu viele Misserfolge erleiden, wenn sie den Sinn des zu Lernenden nicht erkennen, wenn ihnen das Lernen keine Freude macht, können sie nicht gut lernen. Millionen Eltern hätten eine Chance, für ihre Kinder eine freundlichere und lernwirksamere Schule zu fordern. Aber vielen fehlt der soziale Mut, sich aktiv für eine humane Schule einzusetzen. Kritik an der Schule zu üben, ängstigt sie. Bei manchen weckt sie die während der eigenen Schulzeit erworbene Autoritätsangst. Deshalb darf Widerspruchsmut nicht aufkommen. Aber vor allem die Eltern hätten mit ihrer Vielzahl von Bürgern eine Chance, Veränderungen durchzusetzen.

13. Eltern, Lehrer, Schüler und Politiker müssten den „Bruch mit der Gleichgültigkeit“ wagen

Die Schulnot vieler Kinder wird gleichgültig hingenommen. Es ginge darum, für Schulumstände einzutreten, in denen Kinder und Jugendliche angstfrei lernen dürfen, in denen Lehrerinnen und Lehrer den schulischen Umgang pädagogisch gestalten und Eltern mitwirken können. Der „Bruch mit der Gleichgültigkeit“ bedeutet, sich für das einzusetzen, was sich durch PISA als leistungsstärkend erwiesen hat, seit einem Jahrhundert gefordert und in fortschrittlichen Schulen praktiziert wird, zum Beispiel:

  • Die institutionalisierte Lieblosigkeit abschaffen, in der kleine Kinder mit Zensuren gedemütigt und in ihrer Lern-Entwicklung gestört werden; in Ländern ohne Ziffernzensuren wird genauso gut oder besser gelernt.

  • Die Entmutigungsdidaktik beenden, die durch das Ausleseprinzip über jene Kinder hereinbricht, die schwächer als die „Norm“ sind – statt jedem Kind beim Lernen zu helfen und sein individuelles Lernwachstum zu unterstützen.

  • Das lernstörende und sozial schädliche Konkurrenzprinzip durch das Kooperationsprinzip ersetzen – auch weil die Bewahrung unserer Erde Kooperation statt Rivalität braucht.

  • Verantwortung für Kinder übernehmen, die durch Überforderung und angstmachende Schulbedingungen seelisch und psychosomatisch verletzt – statt in ihrem Selbstwertgefühl gestärkt werden.

  • In einer Humanen Schule Erziehung und Unterricht als „helfende Beziehung“ verwirklichen. Lehrer sind nicht „Stoffvermittler“, sondern Lern-Anreger und Lern-Helfer.

  • Das bedeutet, pädagogisch engagierte Lehrerinnen und Lehrer zu unterstützen, den Kindern beim Lernen zu helfen. Lehrer-Sein ist ein helfender Beruf.

  • Nur in einer Atmosphäre des Verstehens und Helfens entfalten Kinder ihre Leistungsfähigkeit.

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