Prof. Dr. Kurt Singer
Überlegungen auf einem Klassen- und Schülersprecher-Treffen:
Als Schüler- und Klassensprecher die Schule mitgestalten?
Die Grundrechte wahrnehmen – Zivilcourage im Unterricht
wagen
Zum Ablauf der Veranstaltung:
Kurzreferat: Einführung in das Thema an konkreten
Beispielen: Kann ich als Schülerin und Schüler den Schulalltag
verändern?
Gespräch: Was möchte ich gern verändern?
– Welche Schwierigkeiten treten auf? – Welche Befürchtungen
hindern mich, einzugreifen? – Wie kann ich
meinen Mut stärken?
Grundaussagen zur Thematik „Schülermitverantwortung“
- Menschen- und Kinderrechte in der Schule
1. Das Grundgesetz: Die Unantastbarkeit der Menschenwürde
Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland steht:
Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Das gilt auch für die Würde der Schülerinnen und Schüler;
denn Menschenrechte sind Schülerrechte.
Fragen für Klassen- und Schülersprecher:
-
Wie wird die Unantastbarkeit der Menschenwürde in die Praxis
des Unterrichts umgesetzt?
-
Die Würde des Menschen besteht in der Achtung der Persönlichkeitsrechte.
-
Wird der Einzelne in seiner Individualität, seiner Einmaligkeit
respektiert?
-
Wie können Klassen- und Schülersprecher aktiv für
die Unantastbarkeit der Würde des Schülers eingreifen?
2. Ein Bundesgesetz: Das Recht auf gewaltfreie Erziehung
Der Deutsche Bundestag verabschiedete im Jahr 2000 ein neues Gesetz:
Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie
Erziehung. Körperliche Bestrafung, seelische Verletzung und andere
entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.
Fragen für Schüler- und Klassensprecher:
-
Entspricht der Umgang von Lehrerinnen und Lehrern mit den Schülern
dem Recht auf gewaltfreie Erziehung?
-
Gibt es in unserer Klasse Situationen, in denen Kinder und Jugendliche
seelisch verletzt werden?
-
Erleben wir Maßnahmen, die Schülerinnen und Schüler
als entwürdigend erleben?
-
Wie können wir als Klassen- und Schülersprecher für
das Recht auf gewaltfreie Erziehung eintreten?
3. Das Übereinkommen der Vereinten Nationen: Die Rechte
des Kindes
Die Vollversammlung der Vereinten Nationen beschloss das Übereinkommen
über die Recht des Kindes. Darin heißt es unter anderem:
Die Disziplin in der Schule muss in einer
Weise gewahrt werden, die der Menschenwürde des Kindes entspricht.
Kein Kind darf in seiner Ehre verletzt werden. Das Kind hat das Recht,
seine Meinung in allen es berührenden Angelegenheiten frei zu äußern.
Die Erwachsenen berücksichtigen die Meinung des Kindes.
Fragen für Schüler- und Klassensprecher:
-
Wird an unserer Schule die Disziplin so gewahrt, dass sie der Menschenwürde
des Kindes entspricht?
-
Werden die Rechte des Kindes respektiert, indem kein Schüler
in seiner Ehre verletzt wird? Haben die Schüler das Recht, ihre
Meinung in allen sie berührenden Angelegenheiten frei zu äußern?
-
Berücksichtigen Lehrerinnen und Lehrer die Meinung der Schülerinnen
und Schüler?
Wünsche von Schülern, das Schulleben und den Unterricht mit
zu gestalten
Achtungsvoller Umgang mit Schülerinnen und Schülern?
Jugendliche klagen weniger über die Schule an sich, sondern
über Einzelfälle von Lehrern, die ihnen das Lernen und Leben
schwer machen. Diese stellen Schüler bloß, lachen sie aus,
bedrohen sie mit schlechten Noten, behandeln sie geringschätzig,
disziplinieren sie durch Leistungsdruck, ziehen die „Notenschraube“
an. Sie lesen ohne Einverständnis der betroffenen Schüler missglückte
Arbeiten vor, blamieren Kinder, rufen sie auf, ohne dass sich diese zu
Wort melden, ängstigen sie. Von Schülern gefürchtete Lehrer
erschrecken Jugendliche mit unangesagten Tests, kreiden ihnen vor allem
Fehler an, ohne auch das Geglückte anzuerkennen. Sie helfen Kindern
nicht, wenn die sich schwer tun, beleidigen sie, indem sie ihre Schwächen
aufzeigen. Manchmal werden Schüler durch verletzendes Lehrerverhalten
so gekränkt, dass sie erkranken; denn aus seelischem Leid kann körperlicher
Schmerz entstehen.
Den Unterricht mitgestalten?
Häufige Klagen von Schülern sind: Der Unterricht ist so langweilig,
dass es schwer fällt, aufzumerken. Schüler dürfen nicht
mitbestimmen, was sie lernen möchten. Sie fürchten sich davor,
ständig aus- und abgefragt, plötzlich aufgerufen zu werden.
Ihre eigenen interessierten Fragen kommen zu kurz. Lehrerinnen und Lehrer
würden zu viel reden, da ließe ihre Aufmerksamkeit nach und
sie kämen selber nicht zu Wort. Schülerinnen und Schüler
dürfen zu wenig selber tun. Sie geben es auf, ihre Wünsche zu
äußern, weil sie doch nicht gehört werden.
Aus der Ohnmacht und Resignation heraus treten?
Schülerinnen und Schüler fühlen sich oft ohnmächtig
und resignieren. Sie merken selbst nicht mehr, dass sie vieles als „normal“
hinnehmen, was sie vielleicht verändern könnten. Viele fühlen
sich als hilflose „Opfer“ der Schule – und nicht als
Mitgestalter. Sie erleben es so, dass sie für die Schule
da sind – und nicht die Schule eine Einrichtung ist, die für
sie da ist.
Sind Jugendliche wirklich ohnmächtig? Oft gehen ihre Wünsche
unter, weil sie selbst zu wenig darüber nachdenken, was sie sich
wünschen und was ihre Rechte sind. Von Eltern und Lehrern werden
sie zu wenig angeregt, ihre Interessen mitzuteilen. Schüler- und
Klassensprecher sollten darin unterstützt werden, ihre Schulsituation
schärfer wahrzunehmen und für Veränderungen einzutreten.
Fragen zu Handlungsmöglichkeiten für Schüler- und Klassensprecher
Mit dem Fragen beginnt die Veränderung
-
Wie sehe ich meinen persönlichen Schulalltag im Hinblick auf
die Achtung der Menschenwürde?
-
Wie befreie ich mich von der Einstellung: „Es nützt ja
doch nichts, wenn ich etwas vorschlage.“
-
Wo möchte ich und wo kann ich etwas verändern, damit Schule
freundlicher wird und wir Schüler besser lernen können?
-
Wie kann ich Lehrerinnen und Lehrer konstruktiv kritisieren, ohne
sie zu verletzen, sondern so, dass ich mit ihnen im Gespräch
bleibe?
-
Welche Möglichkeiten haben wir als Schüler- und Klassensprecher,
uns mit Zivilcourage gegen unpädagogisches Lehrerverhalten zu
wehren?
-
Wer hilft uns dabei, unsere Rechte zu erkennen und wahrzunehmen?
-
Wie können wir unsere Lehrerinnen und Lehrer zur Zusammenarbeit
gewinnen, den Verbindungslehrer, die Schulleitung, die Eltern und
den Elternbeirat, den Schulpsychologen?
-
Wie können wir das uns Schülern zustehende Recht auf Meinungsfreiheit
wahrnehmen?
-
Wie regen wir Mitschüler an, sich einzumischen, statt nur über
Lehrerinnen und Lehrer zu schimpfen und passiv zu beteuern: „Die
sitzen ja doch am längeren Hebel“?
-
Wie können sich Schüler- und Klassensprecher Sachverständnis
für eine argumentative Mitsprache aneignen, zum Beispiel durch
Kenntnis des Unterrichtsgesetzes, der Schulordnung, der Gesetze, der
lernpsychologischen und didaktischen Grundlagen des Lernens?
-
Wie können Schüler- und Klassensprecher für die Selbstbestimmung
der Lernenden und für die Demokratisierung der Schule eintreten?
Was ist dabei für den Kontakt mit den Mitschülern wichtig?
-
Wie könnte aus dem Engagement von Schüler- und Klassensprechern
so etwas wie eine „Schülerbewegung“ für eine
„Schülerschule“ entstehen?
Als Schülersprecher Zivilcourage und demokratisches
Handeln wagen?
Kinder und Jugendliche sollten mit Hilfe von Lehrerinnen und Lehrern
in selbstbewusster und verantwortlicher Teilhabe am schulischen Leben
unterstützt werden. Aber letztlich müssen gerade Schüler-
und Klassensprecher bei sich selbst erkunden, wie viel Widerspruchsmut
sie aufbringen, welche Vorschläge sie einbringen möchten, damit
es für ihr Selbstbewusstsein stimmt. Dazu müssen Schülerinnen
und Schüler Wertvorstellungen entwickeln, wie sie selbst den Lehrerinnen
und Lehrern achtsam begegnen wollen – und welches Verhalten sie
sich von Lehrerinnen und Lehrern wünschen, damit sie in der Schule
zufrieden leben, leichter lernen und mehr leisten können. Dazu gehört
der Mut, die eigene Meinung zu äußern, ohne Lehrer aggressiv
anzugreifen. Schüler können erfolgreicher lernen und Lehrer
besser unterrichten, wenn sie in der Schule miteinander leben,
statt gegeneinander. Jugendliche verbringen einen großen Teil ihrer
Lebenszeit in der Schule. Nur wenn sie dort üben, mitzusprechen und
mitzugestalten, fühlen sie sich später als demokratische Bürger
der Politik gegenüber nicht ohnmächtig. Das Engagement des Schüler-
und Klassensprechers ist politisches Handeln.
Schülerpolitische Vorschläge für demokratisches Handeln
Menschenrechte
müssen auch Schülerrechte sein
Persönlichkeitsverletzungen, die Schülern in der Schule zugefügt
werden, dürfen nicht tabuiert werden. Wenn Kinder unter dem Macht-Missbrauch
beziehungs-unfähiger Lehrer leiden – den sogenannten „Einzelfällen“,
muss das auch ein politisches Thema sein. Kinderpolitiker sollten sich
zur Aufgabe machen, verletzendes Lehrerverhalten im Schulrecht zu benennen
und zu bestrafen. Das Grundrecht „Die Würde des Schülers
ist unantastbar“ muss auch für Schüler gelten. In der
schulpolitischen Diskussion muss ein Problembewusstsein für Menschenrechte
in der Schule geweckt werden. Auch weil eine Humanisierung des Schulalltags,
das Lernen und die Leistungsfähigkeit der Schüler verbessert.
Die Rechte der
Schüler stärken – Mehr Demokratie in die Schule
Schüler sollten praktisch erleben, was demokratisches Handeln
heißt. Es muss ihnen ermöglicht werden, ihre Interessen auszudrücken
und im Rahmen der schulischen Aufgaben umzusetzen. Kinder und Jugendliche
sind fähig, demokratisch mitzusprechen bei der Lernstoff-Auswahl,
der Unterrichtsmethode und dem schulischen Zusammenleben. Sie brauchen
Mitbestimmungsrechte in allen sie betreffenden Fragen des Unterrichts
und des Schullebens. Dadurch wird eigenverantwortliches Handeln gestärkt
– und die Jugendlichen können besser lernen.
Seelische Züchtigung
verbieten – Das Recht auf gewaltfreie Erziehung
Das ist durch Gesetze festgelegt, aber es müsste konkreter ins
Bewusstsein von Lehrern, Schülern, Eltern und Politikern eingehen:
Bloßstellung, Beleidigung, Ehrverletzung, geistige und körperliche
Überforderung, Auslachen, Entwertung und andere seelische Verletzungen
sind nicht nur unpädagogische Vergehen, sondern strafbare Handlungen.
Durch politisch
bestellte Schülerbeauftragte die Grundrechte der Schüler schützen
Bei Gruppen abhängiger Bürger wachen Bundesbeauftragte darüber,
dass demokratische Rechte eingehalten werden: Wehrbeauftragte für
Soldaten, Frauenbeauftragte für Frauen, Ausländerbeauftragte
für ausländische Bürger. „Kinderbeauftragte“,
wo es sie gibt, kümmern sich selten hinreichend um die schulischen
Belange, zumal auch von ihnen meist das Tabu befolgt wird, Lehrer nicht
zu kritisieren. Schülerinnen und Schüler sind durch das Ungleichgewicht
zwischen Erwachsenen und Kindern in einer besonders abhängigen
Stellung; sie bräuchten „Treuhänder“, Ombudsmann
oder Ombudsfrau, die ihre grundgesetzlichen Rechte gegenüber den
Behörden und Vorgesetzten schützen. Politiker müssten
eine Lobby für Schüler schaffen.
Schülern
Rechtsschutz gewähren, wenn ihre Persönlichkeitsrechte verletzt
werden
Lehrer haben Rechtsschutz durch Berufsverband, Anstellungsbehörde
und oft noch privat. Schüler brauchen Einrichtungen, die sie juristisch
beraten und ihnen beistehen, wenn sie rechtswidrig behandelt werden.
Sie bedürfen des gleichen Rechtsschutzes, der ihre Lehrer schützt.
Ihnen müssen Wege eröffnet werden, seelischer Verletzung durch
Lehrer auszuweichen: durch Lehrerwechsel, Schulwechsel, Lehrerwahl...
Wenn nötig, sollte ihnen dazu kostenfreier Rechtsschutz gewährt
werden.
Neutrale Instanzen
für Schülerberatung und Schülerhilfe schaffen
Sie sollten Schülern in Konfliktsituationen zur Seite stehen:
Einrichtungen wie Kontakt-Telefon, unabhängige Schülerberatungs-Stellen,
psychosoziale Betreuung. Wenn Kinder durch die Schule in Not gebracht
werden, sollten sie sich an unparteiischen Stellen beraten und helfen
lassen können. Schülerpolitische Veränderungen müssen
darauf hinwirken, in der Schule mehr Humanität und mehr Demokratie
durch Mitsprache und Mitbestimmung zu verwirklichen.
Das Recht auf
Kritik an Lehrern einführen – Kritikfähigkeit als demokratische
Tugend
Schülerinnen und Schülern muss – entsprechend den „Rechten
des Kindes“ – ermöglicht werden, Lehrerinnen und Lehrer
zu kritisieren. Kritik darf nicht nur einseitig von Lehrern zu Schülern,
sondern muss auch umgekehrt von Schülern zu Lehrern möglich
sein. Dadurch wird das Recht der Schüler gestärkt, ihren Arbeitsplatz
mit zu gestalten. Kritikfähigkeit ist eine wichtige demokratische
Tugend – sie schließt Selbstkritik ein.
Das Recht auf
Lernen in einem ich-stärkenden Unterricht
„Schul-Pflicht“ soll die „Lernerfolgs-Pflicht“
einschließen: das Schülerrecht auf einen verstehbaren, individualisierenden,
Lernerfolg garantierenden Unterricht. Dazu bedarf es des lebenslangen
pädagogisch-psychologischen Lernens von Lehrerinnen und Lehrern.
Die kontinuierliche Lehrerweiterbildung stärkt die unterrichtliche
Fähigkeiten durch die Kenntnis lernpsychologischer Einsichten,
sowie die Fähigkeit von Lehrerinnen und Lehrern, eine helfende
pädagogische Beziehung zu Schülern aufzubauen und schulische
Alltagskonflikte zu bearbeiten.
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