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Prof. Dr. Kurt Singer

Vortrag am 17. Oktober 2003 in Gauting - Akademie für Homöopathie

Schulnöte machen leib-haftig krank –
Wege des Helfens

Ich spreche zu Ihnen über die Frage: Können Schulnöte Kinder leib-haftig krank machen? Und: Wie macht Schule gesund und lernbereit? – Wir verstehen Kinder besser, wenn wir ihre seelisch-leiblichen Reaktionen ernst nehmen. Zum Beispiel die von Martin.

Bei Martin geht es vor Blamage-Angst „in die Hose“

Der Mutter fiel auf, dass Martins Unterhose gelegentlich nass war; sie sprach ihren neunjährigen Jungen darauf an. Er meinte beschämt, er würde es nicht merken. Die Mutter ermunterte ihn, ihr mitzuteilen, wenn es wieder passierte. Da zeigte sich: Martin nässte immer dann ein, wenn er in der Mathematikstunde vorrechnen sollte, oder wenn er Angst davor hatte, vor die Klasse zu treten. Er Junge beteuerte: „Ich erschrecke so, wenn ich an die Tafel muss.“ Weinend erzählt er: „Ich stehe dann vor der Klasse und habe Angst, mich zu blamieren. Ich kann nicht mehr richtig denken und sprechen.“

In der Mutter erwachten eigene angstvolle Schulerlebnisse; deshalb konnte sie sich in ihren Jungen einfühlen. Sie fürchtete sich davor, mit der Lehrerin über Martins Kummer zu reden und konnte ihre Angst nicht überwinden. Aber sie ging dann doch mit ihrer Angst in die Schulsprechstunde, und zwar zusammen mit Martin. Sie nahm sich vor, der Lehrerin keine Vorwürfe zu machen, sondern ihr zu schildern, was sie und Martin bedrückte. – Die Lehrerin war überrascht, dass es Martin ängstigte, an der Tafel vorzurechnen. Es war eine Lehrerin, mit der man reden konnte. Ihr tat es leid, den Schüler in eine peinliche Situation zu versetzen. Deshalb vereinbarte sie mit dem Jungen, er solle künftig an die Tafel gehen, wenn er sich traute und sich meldete. Außerdem wollten Lehrerin, Mutter und Martin gemeinsam überlegen, welche Aufgaben den Jungen unsicher machten und wie sie ihm helfen können.

Nach diesem Gespräch kam Martin nicht mehr mit nassen Hosen aus der Schule. Was ist geschehen? Er stand nicht mehr unter der ängstigenden Spannung, an der Tafel vorrechnen zu müssen. Das Symptom verschwand, weil die dahinter liegende Not wahrgenommen wurde. Martin musste nicht mehr einnässen, nicht mehr „weinen durch die Blase“. Mutter und Lehrerin halfen ihm, die seelische Krise zu überwinden, das löste die psychosomatische Krise auf. Die Mutter hat Martins Situation einfühlsam wahrgenommen und konnte dabei dessen Not erkennen. Sie steckte die Lehrerin mit ihrem Mitleid an. Aber ist Mitleid angebracht, wenn ein Kind nur Angst vor dem Vorrechnen hat? Für den französischen Philosophen Rousseau offenbart sich die allen gemeinsame Menschennatur nicht in der Vernunft, sondern im Mitleid: in einem eingeborenen Widerwillen, einen Mitmenschen leiden zu sehen. Diesen Widerwillen, ein Kind leiden zu sehen, spürten Mutter und Lehrerin angesichts Martins Kummer. Sie ließen sich durch das psychosomatische Notsignal zum Mitfühlen und Nachdenken anregen. Das verhinderte, dass aus der psychosomatischen Reaktion eine psychosomatische Erkrankung wurde.

Ich selbst habe so lange ich Lehrer war kein Kind aufgerufen, das sich nicht meldete, oder einen Studenten „drangenommen“, der nicht von sich aus etwas sagen wollte. Es hätte mir leid getan, einen Menschen in eine peinliche Situation zu bringen. Wie wäre das für Sie, wenn ich Sie während des Vortrags aufrufen würde? Könnte das nicht manche von Ihnen ängstigen? Und fänden Sie das nicht taktlos von mir? Gar wenn ich so einen befremdlichen Satz sagte, wie: „Wiederholen Sie, was ich gesagt habe!“

Was war das Psycho-somatische, das Seelisch-leibliche an Martins Krise? Bei Kindern, die einnässen, entspannen sich die Muskeln der Blase zu wenig; diese ist nicht schlaff genug, um den Urin aufzunehmen, deshalb „läuft sie über“. Ursache ist die psychische Spannung, auf welche die Blase empfindlich reagiert. Die seelische Beunruhigung führt zur körperlichen Verspannung und zum Symptom. Bei Martin entspannte sich durch das empfindsame Verhalten von Eltern und Lehrerin die Gefühlslage; diese Entspannung löste das Symptom auf.

„Zuhören“ – eine konflikt-lösende und heilende Kraft

Am Anfang der heilsamen Beziehung stand das Zuhören. Die Mutter hörte Martin zu, sie nahm ihn ernst; die Lehrerin hörte zu. Zuhören ist eine konflikt-lösende und heilende Kraft. In seinem poesievollen Märchenroman „Momo“ beschreibt Michael Ende die Kunst des Zuhörens durch seine Fantasie-Figur, das Mädchen Momo: „Wie Momo sich aufs Zuhören verstand.“

Wie Momo sich aufs Zuhören verstand, war ganz und gar einmalig.
Wenn jemand meinte, sein Leben sei bedeutungslos
und er selbst nur irgend einer unter Millionen,
einer, auf den es überhaupt nicht ankommt
und der ebenso schnell ersetzt werden kann wie ein kaputter Topf -
wenn der hinging und erzählte alles das der kleinen Momo,

dann wurde ihm, noch während er redete, auf geheimnisvolle Weise klar,
dass er sich gründlich irrte.
Dass es ihn, genau so wie er war,

unter allen Menschen nur ein einziges Mal gab,
und dass er deshalb auf seine besondere Weise
für die Welt wichtig war.
So konnte Momo zuhören!                               Michael Ende

Sehen wir, dass es das vor mir sitzende Kind, genau so wie es ist, unter allen Menschen nur ein einziges Mal gibt? Und dass es deshalb auf seine besondere Weise für die Welt wichtig ist? Lassen wir das Kind erleben, dass es wichtig ist? Momos Zuhören ist Liebe; womöglich bringen wir die nicht auf. Aber: Könnten wir Kindern aufmerksamer zuhören? („Ohne vorschnell zu sagen: Woher soll ich denn die Zeit nehmen?“) Jetzt ganz für das Kind da sein? (Statt es zu vertrösten: „Erzähl es mir später.“) Jugendliche genau so ernst nehmen wie Erwachsene? (Und nicht zu urteilen„Ist doch nicht so wichtig.“) Auch ihre kleinen Sorgen annehmen? (Statt zu beschwichtigen: „Mach dir nichts draus.“) Einer Schülerin zuhören, die Angst hat? (Und nicht das „Pensum“ wichtiger nehmen als das Kind: „Schließlich muss ich meinen Stoff durchbringen.“) Nicht mit halbem Ohr hinhören, wenn Kinder und Jugendliche etwas mitteilen, sondern „ganz Ohr“ sein? Denn: Wer fühlen will, muss zuhören.

Kranksein hat vielerlei Ursachen – Die leib-seelische Gleichzeitigkeit

Krankheit hat vielerlei Ursachen: Viren können uns überfallen, Bakterien angreifen, Unfälle verletzen, Organe können in Unordnung geraten. Aber die Ursachen können auch seelisch sein. Jeder Mensch spürt das am eigenen Leib. Dem einen läuft etwas über die Leber, dem andern geht es an die Nieren. Manchen lasten Sorgen schwer auf dem Herzen, wieder anderen schlägt ein Problem auf den Magen. Seele und Körper reagieren empfindsam aufeinander. Eine Veränderung im Zustand der Seele kann etwas im Körper verändern. Die Sprache drückt uralte Einsichten über seelisch-leibliche Zusammenhänge aus. Allerdings begreifen wir die Redewendungen oft nicht im ursprünglichen Wortsinn. Manche Menschen ärgern sich tatsächlich ein Loch in den Bauch – und bekommen ein Magengeschwür. Andere könnten vor Wut platzen, dürfen aber ihre Wut nicht zulassen: das führt womöglich zu hohem Blutdruck. Dem einen bleibt vor Aufregung die Spucke weg, der andere zittert vor Furcht.

Es gibt viele Wechselwirkungen zwischen psychischem Konflikt und körperlicher Reaktion. Sie sind begründet in der leib-seelischen Gleichzeitigkeit. Wir weinen, weil wir traurig sind; wir erröten, weil wir uns schämen, wir zittern, weil wir uns fürchten. Diese körperlichen Vorgänge – Wasser läuft aus den Augen, Rotwerden, Zittern – bestehen nicht für sich; sie werden ausgelöst vom Erleben, nämlich von Trauer oder Schmerz das Weinen, von Scham das Erröten, von Angst das Zittern. Wird diese leib-seelische Ganzheit gestört, kann es zur psychosomatischen Erkrankung kommen.

Ich möchte Sie mit meinem Vortrag nicht belehren. Mein Wunsch wäre, ich könnte Sie berühren an Ihren Lebensfragen im Zusammenleben mit Kindern und Jugendlichen. Sie haben selbst psychosomatische Erfahrungen von sich und mit den Kindern. Die Selbstwahrnehmung kann Sie anregen, sich selbst und die Kinder besser zu verstehen und Wege aus dem Konflikt zu suchen.

Andreas - Versagensangst durch überhöhte Erwartungen wird zu Bauch-Angst

Andreas’ wohlmeinende Eltern hatten Erwartungen, die dem Jungen Bauchschmerzen machten. Jeden Morgen spielte sich das Gleiche ab: Wenn Andreas zum Schulbus gehen sollte, plagte ihn Bauchweh, er würgte das Frühstücksbrot hinunter, verspürte Brechreiz, weinte, wurde blass. Als die Mutter ihm wieder einmal gut zuredete: „Andreas, du brauchst doch keine Angst zu haben“, formulierte er sein seelisch-leibliches Kranksein: „Ich hab keine Angst, aber mir ist so schlecht!“ Damit drückte er unbewusst aus: Ich muss die Angst in Übelkeit umwandeln. Was seelische Spannung war, wurde zur körperlichen Verspannung. Das bei Grundschulkindern häufig vorkommende „Bauchweh“ ist oft Ausdruck unsicherer Beziehung und überfordernder Schulsituation. Das Kind fühlt sich angesichts der Leistungsansprüche ohnmächtig. Darauf reagiert es mit Angst und flüchtet unbewusst in leibliche Symptome.

Zu seiner Furcht sagte Andreas: „Die Proben machen mir am meisten Angst. Da mein’ ich immer: Jetzt krieg’ ich eine schlechte Note.“ – Er wird gefragt: „Aber du bist doch ein guter Schüler, was ist so schlimm, wenn du einmal eine schlechte Note hast?“ Darauf er: „Erst einmal denke ich an meine Eltern und dann erst an mich. Mir würde die Note Drei oder Vier oder Fünf nichts ausmachen, aber meinen Eltern. Deshalb bringe ich immer so gute Noten nach Haus’, weil ich so gezwungen bin, weil die Mami sonst schimpft. Die will unbedingt, dass ich auf’s Gymnasium gehe.“

Von der gefürchteten Prüfungssituation erzählte er: „Immer wenn eine Probe kommt, mein’ ich gleich, das schaff’ ich nicht. Ich muss unbedingt einen Einser kriegen... Bei solchen Proben wird mir übel, alles dreht sich und dreht sich und dreht sich... Während der Probe schwitz’ ich immer so; mir wird ganz heiß, wenn ich eine Aufgabe nicht kann. Und wenn ich einen Fehler sehe und ich schau’ auf die Uhr, dann glaub’ ich immer: O je, das schaff’ ich jetzt nimmer. Was wird jetzt das für eine Note werden. Bei der letzten Probe hab’ ich einen Zweier gehabt. Jetzt krieg’ ich vielleicht einen Fünfer.“ – Es ist erstaunlich, dass solche Ängste, tausendfach beobachtet, Eltern nicht zu Nachdenken und Protest bewegen. Es gibt sogar einen eigenen Begriff dafür: Schulangst. So selbstverständlich ist die Verbindung zwischen Schule und Angst. Dunkelangst, Höllenangst, Flugangst, Strafangst, Gewissensangst, Prüfungsangst, Todesangst, Existenzangst, Kriegsangst, Lebensangst – Schulangst.

Andreas’ Angst entsprang zum einen der von der Schule hergestellten Furcht, zum andern der Not mit den elterlichen Erwartungen. Die Eltern wünschten sich, ihr Kind „solle es einmal besser haben“; deshalb müsse es gut lernen. Die Mutter: „Mein Wunschtraum wäre halt, dass er Arzt wird.“ Wenn solche Erwartungen starr an ein Kind herangetragen werden, schränken sie dessen Entwicklung ein. Das Kind kann dann nicht seine individuellen Neigungen entfalten. Andreas wollte in seiner Fantasie nicht Arzt werden, wie die Mutter es sich wünschte, er wollte Dichter werden. Er schrieb gern Geschichten und kleine Gedichte. Dazu die Mutter im Gespräch: „Er sagt immer, er möchte Dichter werden, gell, der spinnt halt ein bisserl.“ Sie wertet genau das ab, was für den Jungen jetzt so wichtig war: damit fühlt sich der Junge selbst abgewertet. – Andreas wurde jeden Tag zum Klavier-Üben gezwungen. Der Vater: „Wissen’s, ich selber hätt’ halt so gern ein Instrument gespielt.“ Es wird deutlich, wie die Eltern eigene Wünsche in den Jungen hinein verlegten, die das Kind überforderten. Angst und Demütigung griffen sogar die Gesundheit an.

Wie konnte Andreas und seinen gut-meinenden Eltern geholfen werden? Es ging in den Gesprächen nicht darum, den Eltern Schuld zuzuweisen, sondern sie dabei zu unterstützen, ihren eigenen Druck zu erkennen. Ihre Erwartungen hingen mit der strengen Selbstverpflichtung zusammen, alles zu tun, um dem Jungen eine erfolgreiche Schulkarriere zu ermöglichen. Das versetzte sie in Dauerspannung, die sie auf Andreas übertrugen. Je mehr die Eltern erkannten, was die Ursache ihrer Erwartungen waren, und um wie viel besser sie selbst leben konnten, wenn sie sich von diesem Druck befreiten, um so leichter konnten sie den Jungen „gehen lassen“. Das milderte Andreas’ Ängste und die Bauchschmerzen verschwanden. Aber oft verstärkt sich der Kummer von Kindern, wenn ihre Angst nicht angenommen wird, wie es bei Andreas’ Mutter war.

Ich brauch’ die Angst – Die Angst annehmen – Etwas gegen die Gefahr tun

„Du brauchst keine Angst zu haben!“ Kennen Sie diesen Satz? – Eltern sprechen ihn oft aus, denn sie können die Situation überblicken, sie sind sicher, dass nichts passieren wird. Timon erlebte das anders. Seine Mutter erzählte, welche Erfahrung sie mit dem Satz gemacht hat: „Du brauchst keine Angst zu haben.“

Wir waren im Urlaub zum ersten Mal mit unserer Familie am Meer. Timon, unser zehnjähriger Sohn konnte gut schwimmen. Am Wesslinger See hatte er keinerlei Angst. Er schwamm hinaus und fühlte sich sicher. Jetzt aber, am Meer, verhielt er sich unerwartet ängstlich. Er traute sich nicht ins Tiefe zu schwimmen. Wir redeten ihm gut zu: „Das Wasser ist doch genau so wie daheim in unserem See... Brauchst dir nur vorzustellen, du schwimmst bei uns zu Hause.“ Tatsächlich war das Meer ruhig, der weiche Sandstrand fiel flach ab; alles schien gefahrlos. Um ihn zu beruhigen – so erzählte die Mutter weiter – sagte ich zu Timon: „Du brauchst keine Angst zu haben.“ – Darauf entgegnete mir der Junge: „Doch, ich brauch die Angst.“

„Ich brauch’ die Angst?“ Ja: Dieses Kind spürte, dass es die Angst als „Signal für eine Gefahr“ braucht. Angst tritt auf, wo etwas unbekannt ist, nicht ganz durchschaubar, oder wo man unangenehme Folgen befürchtet. Timon erlebte die unvertraute Situation als gefährlich. Mit Hilfe der Angst konnte er die Gefahr aufmerksam wahrnehmen. Die Furcht verhalf ihm zu Umsicht und Vorsicht.

Und wie konnten die Eltern achtsam Timons Mut stärken? – Sie lachten Timon nicht aus: „Was bist du für ein Angsthase!“ Sie versuchten ihm die Furcht nicht auszureden: „Da musst du einfach hinein springen.“ Sie drängten ihn nicht: „Komm jetzt sei nicht so ängstlich und trau dich, du bist doch kein kleines Kind mehr.“ Vielmehr ließen sie sich anteilnehmend auf seine Furcht ein. Sie meinten, er solle das Unbekannte in Ruhe kennen lernen und nur so weit ins Tiefe steigen, wie es ihn freut. Sie boten ihm an, ihn an der Hand zu nehmen und mit ihm gemeinsam ins Tiefe zu gehen. Durch dieses verständnisvolle Verhalten der Eltern vermochte Timon die Angst zu bewältigen: Er verbesserte die Überschau über das Unbekannte, machte sich das Unvertraute vertraut. Die Eltern halfen ihm, die Gründe für seine Angst zu durchblicken und Wege aus der Angst zu suchen. Auf diese Weise ging Timon gestärkt aus der Angst-Situation hervor und schwamm bald mit Mut und Freude im Meer.

Die Angst annehmen, ist ein wichtiger Schritt, mit Kindern achtsam umzugehen und zu verhindern, dass sich Angst, wie bei Andreas, in psychosomatische Symptome verwandelt. Mit der Bemerkung „Du brauchst doch keine Angst zu haben“ fühlen sich Kinder in ihrer Hilflosigkeit allein gelassen. Sie merken: ich sollte eigentlich anders sein, als ich jetzt gerade bin. Weil sie die Erwartungen der Eltern, nicht erfüllen, fürchten sie, deren Zuneigung zu verlieren. Angst ruft nicht dazu auf, sie zu verharmlosen, Angst ruft zu Achtsamkeit auf. Dann können wir Kindern helfen, etwas gegen die Angst zu tun, nämlich:

  • Genau hinsehen, sich in die Angstsituation hinein begeben, alle Einzelheiten der Furcht zulassen.

  • Überlegen, welche Gefahr besteht, wie groß die Bedrohung tatsächlich ist.

  • Schritte erfinden, die Gefahr zu mildern, oder ihr aus dem Weg zu gehen, oder sie zu beseitigen.

Hemmend wird die Angst allerdings, wenn sie so groß ist, dass sie das Kind lähmt.

Sebastian: Lehrerworte wie «Gift, das du unbewusst eintrinkst» - Gastritis

Sebastian erkrankte nach dem Übertritt ins Gymnasium an einer Entzündung der Magenschleimhaut. Oft kam er bedrückt und blass von der Schule nach Hause. «Ist was?» fragt die Mutter. «Nein», antwortet der Junge gepresst und unterdrückt die Tränen. Dann bricht es aus ihm heraus: «Herr Rauh hat mich dran genommen, und ich hab eine Fünf bekommen. Er war so gemein zu mir ...» Sebastian berichtet weinend von der Ausfrage-Folter des Studienrats. Der Lehrer wählt «Opfer» aus, spürt deren Schwächen auf und stellt die Schüler mit Misserfolgen bloß. Er fragt nicht nach dem Können, sondern nach Wissenslücken und schreibt den Schülern ihre «verdiente» Fünf ins Zensurenbuch. Schwache lacht er aus. – Der berühmte Arzt und Pädagoge Janusz Korczak, der seine 200 jüdischen Waisenkinder nicht verließ, sondern freiwillig mit ihnen in die Gaskammern des Konzentrationslagers schritt, sagte: „Ein Kind auszulachen, ist ein Verbrechen.“ Dieses Verbrechen gehörte hier zum Alltag.

Während er ausfragt, macht der Lehrer abwertende Bemerkungen, wie: «Was bist du für ein Penner», „Das wirst du nie schaffen.“ Seine Verhöhnungen endeten gegenüber Sebastian wiederholt mit der Frage: «Was hast du überhaupt auf dem Gymnasium zu suchen?» Solche Worte verletzen Kinder in ihrem Selbstwert. Sie treffen sie wie Gift: «Gift, das du unbewusst eintrinkst und das seine Wirkung tut», schreibt der Philosoph Victor Klemperer: Sprache, auch Lehrersprache, «kann aus giftigen Elementen gebildet oder zu Trägern von Giftstoffen gemacht werden. Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.» Es gibt Menschen, die lebenslang unter winzigen Arsendosen leiden, die ihnen Lehrer verabreichten; denn in der Schule ist die Würde des Kindes antastbar.

Sebastian war bis dahin nie psychisch auffällig. Jetzt schreckte er wegen des gewalttätigen Lehrers nachts auf. Er klagte über Magenschmerzen und der Kinderarzt diagnostizierte eine Gastritis. In seiner Magenschleimhautentzündung wurde der ihm zugefügte psychische Schmerz zu körperlichem Schmerz. Dem Jungen raubte der seelische Sadismus des Oberstudienrats Vertrauen, Selbstvertrauen und körperlich-seelische Unversehrtheit.

Der Magen reagiert auf seelische Erregungen

Weshalb erkrankte Sebastian gerade an einer Entzündung der Magenschleimhaut? Was ist das Psycho-somatische? Durch seelische Konflikte können Symptome an den unterschiedlichsten Organen auftreten und diese schädigen, auch im Magen. Dass der Magen mitreagiert, wenn wir unter seelischer Anspannung stehen, erfahren viele Menschen an sich selbst. Wir sagen: „Das liegt mir schwer im Magen“, er „frisst alles in sich hinein“, er „reagiert sauer“, „das ist ein schwer verdaulicher Brocken“, „da dreht sich mir der Magen um“, „das liegt mir wie ein Stein im Magen“. Manche Menschen erleben unmittelbar, wie ihnen etwas „auf den Magen schlägt“, oder wie es ihnen „den Magen zusammenzieht“.

Ein Arzt für Psychosomatik untersuchte an der Münchner Universitäts-Poliklinik, wie sich der Magen verhält, wenn Patienten über ihre persönlichen Konflikte sprechen, über Ärger und Sorgen. Während er mit den Magenkranken ein therapeutisches Gespräch führte, ließ er deren Magen durchleuchten. Im Verlauf der Gespräche über konflikthafte Persönlichkeitsprobleme, kam es bei den Erkrankten zu heftigen Verkrampfungen in der Magenhöhle. Und zwar verkrampfte sich die Magenwand immer dann, wenn die Rede von belastenden Situationen war: von beruflichen Schwierigkeiten, Problemen in der Partnerbeziehung, von Neid, Wut, Angst und Ärger. Diese Verkrampfungen verursachen eine Fehlfunktion beim Absondern des Magensaftes. Es kann zur Übersäuerung der Magenschleimhaut und einer dadurch ausgelösten Entzündung kommen. – Bei Sebastian wurde auf diese Weise der Magen zum Schmerzpunkt für die seelische Überforderung.

Anregung zum persönlichen Überlegen im Partnergespräch: Kraft der Erinnerung

Eltern, Lehrerinnen und Lehrer können ihr psychosomatisches Verständnis und ihre Mitfühlfähigkeit stärken, wenn sie sich ihrer eigenen Kindheit erinnern. Der Reformpädagoge Celestin Freinet drückte seine Erziehungskunst so aus: „Mein einziges Talent als Pädagoge besteht darin, dass ich mich meiner eigenen Kindheit erinnere. Ich fühle und begreife als Kind die Kinder, die ich erziehe.“ Diese Kraft der Erinnerung bewahrt uns vor dem für Kinder verhängnisvollen Satz: „Uns hat es auch nicht geschadet.“

Wir können seelisch-leibliche Zusammenhänge mit dem verknüpfen, was wir persönlich erleben. Zum Beispiel indem wir überlegen:

  • Erfuhr ich an mir selbst, dass Kränkung krank machen kann? Als Kind oder später?

  • In welchen körperlichen Anzeichen drückt sich bei mir aus, dass ich gekränkt worden bin? Mit welcher Körperstelle oder welchem Organ reagiere ich empfindlich, wenn mich etwas belastet? Wenn ich mich aufrege, ärgere, sorge oder überfordere?

  • Erinnere ich psychosomatische Reaktionen aus meiner Schulzeit? Vielleicht wurden sie gar nicht in ihrem leiblich-seelischen Zusammenhang erkannt?

  • Beobachte ich an meinen Kindern psychosomatische Auffälligkeiten? Zum Beispiel wie sich psychische Spannung in körperliche Spannung verwandeln kann?

  • Sehe ich bei meinen Kindern, dass sie durch unpädagogisches Lehrerverhalten unter seelischen Druck geraten, womöglich nicht nur psychische, sondern auch psychosomatische Reaktionen zeigen?

Durch offenen Unterricht gesünder werden – Eine Untersuchung dazu

Schule kann gesund machen, das zeigte sich an verhaltensgestörten Kindern. Sie litten unter Hyperaktivität: an gesteigertem, nicht normalem Bewegungsdrang, an motorischer Unruhe, die sich auch in nervösen Körperzuckungen äußerte. Die Kinder konnten sich schwer konzentrieren, waren erhöht ablenkbar und dadurch im Lernen gestört. Die Symptome verringerten sich, nachdem die Kinder ein Jahr lang nicht wie üblich unterrichtet wurden, sondern offenen Unterricht hatten.

Beim offenen Unterricht wechselt gemeinsames Arbeiten mit Lernzeiten, in denen die Kinder frei arbeiten dürfen. Die Schüler bestimmen mit, was sie lernen und üben, sie gehen neugierig ihren Fragen nach. Dazu gibt es reichhaltige, den Altersstufen und Leistungsniveaus angemessene Materialien. Die Schüler lernen nicht isoliert, sondern miteinander: in Partner- und Kleingruppenarbeit, im Kreisgespräch. Sie erhalten viel Zeit, um in Einzelarbeit zu lesen, zu entdecken, einzuüben. Dadurch lernen sie, eigenverantwortlich zu sein. Jeder lernt auf seinem persönlichen Anspruchsniveau, das lässt die Kinder erfolgreich sein. Sie werden nicht in herkömmlicher Weise benotet, sondern bekommen ihren individuellen Lernfortschritt aufgezeigt. Die Schüler dürfen viel handeln; Wortbelehrung und lehrerzentrierte Unterweisung treten zurück. Der Lehrer unterstützt die Kinder, wenn sie allein nicht weiterkommen. Er ermutigt und bestätigt, ermöglicht konzentriertes Arbeiten und Freude am Lernen. Die Kinder dürfen sich jederzeit wechselseitig unterstützen und helfen.

Bei diesem Modellversuch nahmen durch den offenen Unterricht die Symptome verhaltensgestörter Kinder ab. Bei einer Kontrollgruppe, die herkömmlich unterrichtet wurde, war das nicht der Fall. Offener Unterricht erwies sich als gesundheitsfördernd; darüber hinaus waren die Schüler im freien Unterricht weniger ängstlich, ihre Aggressivität nahm ab, sie schwänzten seltener die Schule, fanden mehr Kontakt zum Lehrer und gewannen untereinander bessere Beziehungen. Die Lehrerinnen und Lehrer, die offenen Unterricht durchführten, praktizierten eine schüler-orientierte, gelegentlich auch therapeutische Haltung. Sie selbst „fühlten sich im offenen Unterricht wohler als im lehrerzentrierten. Mehr Ruhe und Entspannungsmomente, mehr Gelegenheit zu Einzelkontakten, die Möglichkeit, Schüler in neuen Situationen zu beobachten, und die Abkehr von der Rolle des ständig redenden und reglementierenden Lehrers trugen dazu bei.“ (Goetze)

Heitere Stimmung verhindert Krankwerden – Stimmt die Schule heiter?

Die Widerstandskraft gegen Krankheit hängt auch davon ab, wie sich ein Mensch fühlt. Furcht, Entmutigung, Verzweiflung machen ihn anfällig für Ansteckung. Menschen erkälten sich in gedrücktem Gemütszustand eher als in hoffnungsvoller Stimmung. Das seelische Erleben kann den Ausbruch einer Infektionskrankheit begünstigen oder abwehren. Untersuchungen zeigen: Überforderung und alle Arten negativen psychischen Befindens vermindern die Abwehrkörper im menschlichen Organismus; dadurch können Viren und Bakterien den Körper leichter befallen.

Eine andere Studie deckte auf: Der Organismus von Menschen stellt in heiterer Stimmung viele Abwehrstoffe bereit. Verschwindet die gute Laune, vermindern sich auch die Abwehrstoffe. Die Untersuchung brachte weiter zutage: Heitere Menschen tragen von vornherein mehr Abwehrkörper in sich. Es besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Freude und körperlicher Abwehrbereitschaft: Positives Gestimmt-Sein stärkt die Abwehr gegen Krankheitserreger.

Die Abwehrkraft des Körpers wird nicht nur durch belastende Gedanken und Gefühle geschwächt. Erschwerend wirkt, wenn die Person diese Gedanken und Gefühle nicht mitteilen kann, sondern mit sich herumträgt. Unausgesprochene Probleme fordern nicht nur seelische Energie, sondern auch körperliche Kraft. Innere Konflikte „unter Verschluss“ zu halten ist Schwerarbeit. Wenn sie längere Zeit schwelen, schwächen sie die körpereigene Abwehr; denn Gefühlsregungen wirken bis in die letzte Zelle des Organismus hinein.

Bei Kindern, die beispielsweise häufig unter Mandelentzündung leiden, wird die Anfälligkeit oft ausschließlich körperlich betrachtet: Einflüsse des Wetters, Ansteckung durch andere Kinder, Erkältungssituationen wie Zugluft, werden für die wiederkehrenden Anginen verantwortlich gemacht. Aufmerksamen Müttern fällt jedoch auf: Gehäufte Krankheitsanfälligkeit hängt auch mit der psychischen Situation des Kindes, dem Familienklima, der Schulsituation zusammen. In der Schule wird sogar das Kranksein selbst zur seelischen Anspannung. Kinder dürfen nicht unbeschwert von Leistung krank werden. Der durch den Unterrichtsausfall versäumte Stoff, so heißt es, müsse nachgeholt werden; das Kind dürfe in keinen schulischen Rückstand geraten. Schule ist offensichtlich nicht dazu da, einem erkrankten Kind Fürsorge zukommen zu lassen. Vielmehr wird unerbittlich gefordert, selbst den unbedeutendsten, ohnehin zum Vergessen eingebläuten Lernstoff nachzuholen – als hätte sich das Kind durch sein Kranksein etwas zuschulden kommen lassen.

Schule könnte heiter stimmen, wenn sie Kinder und Jugendliche Lust am Tätigsein entfalten ließe, wenn sie Neugier, Wissensdurst und spontanen Lernwillen befriedigte, wenn sie Raum für Bewegungslust schaffte – und wenn sie auch genüssliche Unternehmungen in den Unterrichtsalltag einbezöge wie: miteinander essen, gemeinsam feiern, zusammen wandern, Ausstellungen besuchen, im Schullandheim miteinander leben, spielen, singen, das Klassenzimmer so gestalten, dass alle gern hinein gehen. Aber das Wichtigste ist, dass Kinder lernen dürfen; denn sie wollen lernen. Die hilfreichste Zuwendung, die Lehrerinnen und Lehrern den Kindern geben können, ist: ihnen beim Lernen zu helfen, statt nur „Stoff zu vermitteln“.

Albert Camus dankte als erstem seinem verehrten Volksschullehrer, als ihm der Nobelpreis verliehen wurde. Er schrieb: In Ihrer Klasse nährte die Schule einen Hunger, der für das Kind noch wesentlicher war als für den Erwachsenen, den Hunger nach Entdeckung. In anderen Klassen lehrte sie vieles, aber ein wenig so, wie man Gänse mästet. Man setzte ihnen fix und fertige Nahrung vor und bat sie, sie gefälligst zu schlucken. In Ihrer Klasse fühlten die Kinder zum ersten Mal, dass sie existierten und Gegenstand höchster Achtung waren: Man hielt sie für würdig, die Welt zu entdecken.

Das ist es, was Schüler voller Respekt von Lehrerinnen und Lehrern sagen: „Bei dem lernt man was“, „Mit der Lehrerin kann man reden“, „Der behandelt uns anständig“, „Die sorgt für eine gute Ordnung zum Lernen“, „Der nimmt uns ernst“, „Der ist ein Vorbild für uns. In Albert Camus Worten: „In Ihrer Klasse fühlten die Kinder zum ersten Mal, dass sie existierten und Gegenstand höchster Achtung waren: Man hielt sie würdig, die Welt zu entdecken.“

Entdeckung der Langsamkeit – Schülerrecht auf das eigene Zeitmaß

„Aber“, klagen manche Eltern und Lehrer, „woher die Zeit nehmen, um sich mit Kindern so achtsam einzulassen?“ – Psychosomatische Erkrankungen hängen auch mit der Hektik, im Alltag zusammen. Ich gewinne oft den Eindruck, auch in Schule und Familie herrsche atemlose Betriebsamkeit – statt in Ruhe bei Sachen und Menschen zu verweilen. Weshalb lassen sich Lehrer hetzen, hetzen Kinder, deren Eltern, die Eltern hetzen die Lehrer und die Kinder? „Na mach’ schon!“ „Wann fängst du endlich an?“ „Wer ist der Erste?“ Da muss der „Stoff durch genommen“, das Pensum erfüllt werden. Wie viel die Kinder bei dieser Hektik nachhaltig lernen, geht unter. Alles soll schnell gehen, wo Lernen Langsamkeit braucht. Lernen ist ein Wachstumsprozess; und Wachsen vollzieht sich langsam. „Kurze Prozesse“ sind oft destruktiv: die Bombe, die Ohrfeige, die Strafaufgabe, die Demütigung, das Rasen im Auto, der Verweis, der Terroranschlag, das Anbrüllen, der Krieg. Prozesse zu denen wir uns Zeit lassen, wirken sanfter. Oft ist der langsame Weg der schnellere – ganz bestimmt beim Lernen. Es muss Schülerrecht sein, im eigenen Tempo lernen zu dürfen. Eingedenk lehrplan-begründeter Gegenrede von Lehrern oder überforderten Eltern, frage ich Sie dennoch: Könnten Sie für eine die Gesundheit schützende pädagogische Beziehung nicht langsamer tun? Rücksicht nehmend auf sich und die Kinder, auch auf die Langsamen, denen viel Gewalt angetan wird, nur weil sie von Natur aus langsam sind. Günter Grass meint, wir bräuchten als Gegengift zur allgemein vorherrschenden Beschleunigung eine für den Unterricht taugliche Anweisung zur „Entdeckung der Langsamkeit“; er schreibt:

Ich schlage vor, in allen Schulen einen Kurs zur „Erlernung der Langsamkeit“ einzuführen. Von mir aus darf es sogar ein Leistungskurs sein. Langsamkeit wäre eine Gangart, die der Zeit zuwider verliefe. Die bewusste Verzögerung... Das Erlernen des Innehaltens, der Muße. Nichts wäre in der gegenwärtigen Informationsflut hilfreicher als eine Hinführung der Schüler und Schülerinnen zur Besinnung ohne lärmende Nebengeräusche, ohne schnelle Bildabfolge, ohne Aktion, und hinein ins Abenteuer der Stille... Ich weiß: ein Vorschlag, den zu realisieren zwangsläufig die Zeit fehlen wird. Dennoch bitte ich Sie als Lehrerinnen und Lehrer, ihn nicht zu belächeln, sondern ihn spielerisch ernst zu nehmen. (Günter Grass)

PISA und die Lernstörung der Politiker und Bürger

Langsamkeit entdecken? Gras wächst auch nicht schneller, wenn man daran zieht.

Aber in vielen Schulen wird unentwegt gezogen, geschoben, gedrückt, gedrängt. PISA vermehrt die Hektik, ohne dass es einen logischen Zusammenhang zur Studie gäbe. Die Reaktion auf PISA erweckt den Anschein, als handele es sich bei Politikern, Lehrern und Bürgern um eine schwere Lernstörung. Sie ziehen umgekehrte Folgerungen zu dem, was die Studie nahe legt.

In Ländern mit leistungsstarken Schülern, so sehen wir, gibt es keine Noten. Bei uns aber sollen Kinder noch früher Ziffernoten bekommen, bereits im zweiten Schuljahr.

Nach PISA-Ergebnissen scheint langes gemeinsames Lernen in einer Klasse die Leistungen zu steigern: ohne Kinder frühzeitig auszusondern. Bei uns aber sollen die Schüler noch früher, bereits nach dem vierten Schuljahr, aussortiert und voneinander getrennt werden.

  • In Ländern mit guten Leistungen gibt es kein Sitzen-Bleiben. Da werden die Schüler nicht „sitzen gelassen“, sondern aufgefangen und individuell betreut. Bei uns wird daran fest gehalten, hunderttausen Kinder „durchzuschmeißen“.

  • Unterschiedliche Anforderungen für unterschiedliche Schüler bringen bessere Leistungen. Bei uns bleibt es bei der gleich-macherischen Methode des Frontalunterrichts.

  • Die Studie lässt vermuten, dass Leistungsdruck nicht zu guten Ergebnissen führt, sondern Interesse und Lernbereitschaft. Aber viele Politiker, Schülereltern und Lehrer drängen auf noch mehr Druck. Es scheint, als habe die pädagogische Vernunft keine Chance.

  • Lernen durch Handeln, Schüleraktivität, Eigeninitiative erweisen sich als leistungssteigernd. Wir aber halten blind an der Rede- und Zuhörschule fest, in der mehr geprüft als gelernt wird.

  • In einem der Spitzenländer für die Schülerleistung – in Finnland – gilt als pädagogischer Kernsatz der pädagogische Takt: „Kein Kind darf in der Schule beschämt werden.“ Bei uns gehören in vielen Schulen Demütigung, Auslachen, Bloßstellung zum Schulalltag – und deshalb so viele psychosomatischen Erkrankungen bei den Kindern.

Die persönlichen Berührungspunkte suchen – Partnergespräch

  • Schule ist eine häufige Ursache für seelische und psychosomatische Krisen bei Kindern. Viele Menschen kommen aber nicht auf die Idee, anzuzweifeln, dass Schulangst für das Lernen schädlich ist, dass Schule nur so sein kann wie sie unverändert seit 50 Jahren ist. Wie denken Sie dazu?
  • Ist für Sie als Eltern die Schule bereichernd für das Familienleben? Können Sie sich an der Lernfreude Ihrer Kinder mitfreuen? Oder leiden Sie an deren Schulnöten mit und fühlen sich hilflos?
  • Hege ich Vorurteile gegen reformpädagogische Ideen, von denen jetzt durch die PISA-Studie sichtbar wird, wie leistungsfördernd sie sind. Sage ich vielleicht gedankenlos grundfalsche Sätze nach wie: „Ohne Noten lernt man doch nichts“, „Der Stoff muss eben durchgenommen werden“, „Frühe Auslese nach der vierten Klasse ist richtig“, „Schüler ‚sitzen bleiben lassen’ ist notwendig, wenn die nicht mitkommen“, „Schulangst hat es immer gegeben“.
  • Könnten Sie sich vorstellen, einmal die Entdeckung der Langsamkeit versuchen?

Die heilende Kraft der Beziehung

Wie eng Erleben und Körperbefinden zusammenhängen, wurde von vielen Dichtern beschrieben. Elias Canetti schildert in seinem autobiographischen Roman „Die gerettete Zunge“ die heilende Kraft der Beziehung; in diesem Fall nicht bei einer seelischen, sondern bei einer schweren körperlichen Verletzung. Der Junge war damals fünf Jahre alt. Im Hof des Hauses standen große Kessel mit kochend heißem Wasser. Zwischen diesen spielten die Kinder Fangen. Elias Canetti erzählt:

Als Laurica mich gleich neben einem der Kessel fing, gab sie mir einen Stoß, und ich fiel ins heiße Wasser. Ich war am ganzen Leib, nur am Kopf nicht, verbrüht. Tante Sophie, die das schreckliche Geschrei hörte, holte mich heraus und zog mir die Kleider herunter. Die ganze Haut ging mit, man fürchtete für mein Leben, und ich lag unter argen Schmerzen viele Wochen lang zu Bett. Der Vater war damals in England, und das war das Schlimmste für mich. Ich dachte, ich müsse sterben, und rief laut nach ihm: „Warum kommt er nicht? Ich will ihn sehen!“ Von einem Tag auf den anderen vertröstete man mich. In der Nacht, man meinte, ich sei endlich eingeschlafen, sprang ich vom Bett auf und riss mir alles herunter. Statt vor Schmerzen zu stöhnen, schrie ich nach ihm „Wann kommt er? Wann kommt er?“ Die Mutter, der Arzt, alle anderen, die sich um mich bemühten, waren mir gleichgültig, ich sehe sie nicht, ich weiß nicht, was sie unternahmen.

Dann hörte ich seine Stimme, er trat von hinten an mich heran, ich lag auf dem Bauch, er rief leise meinen Namen, er ging ums Bett herum, ich sah ihn, er legte mir leicht die Hand aufs Haar, er war es, und ich hatte keine Schmerzen. Alles was von diesem

Augenblick an geschah, ist mir nur aus Erzählungen bekannt. Die Wunde verwandelte sich in ein Wunder, die Heilung setzte ein. Der Vater versprach, nicht mehr fortzugehen, und blieb während der nächsten Wochen. Der Arzt war der Überzeugung dass ich ohne weitere Gegenwart des Vaters gestorben wäre.

Manche Menschen haben – wenn auch weniger dramatisch – am eigenen Leib erfahren, wie heilend sich Beziehung auf Krankheit auswirken kann. Aber so wie menschliche Beziehung heilen kann, vermag Beziehungslosigkeit krank machen. Psychosomatisches Denken verweist uns darauf, ganzheitlich zu denken, die seelisch-leiblichen Notsignale anzunehmen: bei uns selbst, und bei den Kindern, auch den Schulkindern.

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