Prof. Dr. Kurt Singer - Leitgedanken
Schule kann Kinder gesund erhalten
Schul-Nöte machen leib-haftig krank
Psychosomatische Notsignale wahrnehmen
Wie macht Unterricht gesund und lernbereit?
Seit Jahrzehnten nehmen wir ohne Scham die Studien zum Thema „Schule
macht krank“ hin,
wie einen Kriegsbericht, den wir nicht beeinflussen können. Aus psychologischen
und medizinischen Untersuchungen geht hervor: Nicht nur Familie und Gesellschaft,
auch die Schule verursacht psychosomatische Erkrankungen von Kindern und
Jugendlichen.
1. Schulische Not kann krank machen - Psychosomatische Notsignale aufnehmen
Kinder reagieren auf seelische Konflikte auch mit dem Körper.
- Manchen
liegen Angst machende Prüfungen wie ein Stein im Magen - und sie
erkranken an einer Entzündung der Magenschleimhaut.
- Andere
versetzt Leistungsdruck so in Spannung, dass sie über Spannungs-Kopfschmerz
klagen.
- Bei
wieder anderen wird die Angst zur Bauch-Angst: sie leiden unter Leibschmerzen,
die oft als „Schul-Bauchweh“ bezeichnet werden.
- Bei
einigen geht es vor Schulangst „in die Hose“: die seelische
Dauer-Erregung führt zu erhöhter Blasenspannung und Einnässen.
- Pausenloser
Druck kann schmerzhafte Muskelverspannung, Zähneknirschen, Nägelbeißen
auslösen.
- Andauernde
Überforderung und Behinderung der gesunden Aggression kann Tics
verursachen: Unwillkürliche Körperzuckungen.
- Manche
Kinder leiden wegen ängstlicher Schul-Erregung unter Übelkeit
und Appetitlosigkeit.
- Wieder
andere reagieren psychisch: Verhaltensstörungen, Aggressivität,
Schüchternheit, Schulangst.
Leistungsüberforderung, uninteressante Lerninhalte, Prüfungsdruck,
angstmachende Zensurengebung, schulische Kränkung gehören zu
den belastendsten Problemen Jugendlicher.
2. Das Angstgefühl der Kinder respektieren – Die Angst annehmen
und bearbeiten
Kinder sollten mit ihren Ängsten angenommen werden: Eltern
und Lehrer lassen sich die Angst mitteilen, statt zu beschwichtigen, sie
gehen auf die Befürchtungen ein, statt sie mit dem Satz zurückzuweisen:
„Du brauchst keine Angst zu haben”. Hilfreich ist, die Gründe
für die Angst zu erkennen und Kinder zu unterstützen, die angst-machende
Situation zu verändern. Wenn wir Kindern die Angst „ausreden“,
fühlen sie sich allein gelassen. Es gilt, die Gefahr, vor der sich
das Kind fürchtet, genau anzusehen. Wir sollten Kinder ermuntern,
sich mit ihrer Angst erkennen zu lassen.
3. Zuhören: „Ganz Ohr sein” gibt Kindern Sicherheit –
Verständigung wird möglich
Kinder fühlen sich respektiert, wenn Erwachsene nicht nur auf sie
einreden, sie nicht nur lenken und belehren, sondern ihnen in
Ruhe zuhören, sie ausreden lassen. Bei diesem Zuhören
interessieren sich Eltern und Lehrer dafür, wie das Kind
eine Situation erlebt, was es freut und ängstigt, was es sich wünscht.
Sie nehmen Anteil an seinen Sorgen, Schwierigkeiten, Enttäuschungen.
Dadurch fühlt sich das Kind ernst genommen; das stärkt sein
Selbstwertgefühl. Zuhören ist eine konflikt-lösende und
heilsame Kraft.
4. Achtsam miteinander umgehen durch pädagogischen Takt –
Freundliches Lernklima heilt
Taktvoll miteinander umzugehen beruht auf der Achtung vor der Würde
des Menschen. Die ungleiche Situation zwischen Kindern und Erwachsenen
erfordert, sich in Kinder einzudenken, Rücksicht vorzuleben
und die Schüler zu Rücksicht anzuleiten. Bei pädagogischem
Takt können Kinder sicher sein, nie bloßgestellt, nicht ausgelacht
und beschämt zu werden. Zensuren werden nicht vor anderen bekannt
gegeben, Fehler nicht öffentlich bemängelt,. Taktvolle Erzieher
vermeiden es, geistige und körperliche Schwächen von Jugendlichen
aufzuzeigen, Kinder durch Ironie oder mit Schimpfnamen zu erniedrigen.
5. Was Schüler kränkt - Achtloser Umgang beschädigt das
Selbstwertgefühl
Kinder und Jugendliche klagen weniger über die Schule an sich,
als über einzelne Lehrerinnen und Lehrer, die ihnen das Lernen und
Leben schwer machen. Diese lachen sie aus, bedrohen sie mit schlechten
Zensuren, lesen missglückte Arbeiten vor, blamieren Kinder, rufen
die Schüler auch dann auf, wenn diese sich nicht zu Wort melden.
Sie erschrecken die Jugendlichen durch unangesagte Proben, kreiden ihnen
Fehler an, ohne zu sehen, was bereits geglückt ist. Sie lassen nicht
mit sich reden, stellen überhöhte Leistungsanforderungen ohne
Rücksicht auf die Individualität; in Einzelfällen handeln
sie sadistisch. Die Beschädigung des Selbstwertgefühls stört
nicht nur das Lernen, Kränkung kann auch krank machen.
6. Sprache kann wie „Gift“ wirken - Demütigende Worte
verletzen, manchmal lebenslang
Es beschädigt Kinder in ihrem Selbstwert, wenn sie bloßgestellt,
beleidigt, gekränkt und durch entwertende Bemerkungen herabgesetzt
werden. Die Pädagogik der Unterwerfung äußert sich vor
allem in Wort-Gewalt, gegen die sich Kinder nicht wehren können.
Das Gefühl der Ohnmacht versetzt sie in eine hilflose Lage. Beleidigende
Lehrersprache kann „Gift“ sein, das psychisch und psychosomatisch
verletzt. Worte können töten: die Lernfreude, die Leistungsfähigkeit
und das Selbstwertgefühl – und sogar im wirklichen Wortsinn.
Manche Erwachsene berichten, wie ihnen noch nach Jahrzehnten Lehrerworte
nachgehen: gute und böse.
7. Kinder und Jugendliche brauchen ein aufrichtendes Wort: Achtsamkeit
durch Ermutigung
Kinder brauchen das „gute Wort“. Anerkennung stärkt
ihren Glauben an sich selbst: ihr Selbstbild. Ermutigung beflügelt
das Lernen und macht zuversichtlich. Wenn Kinder für ihre Leistung
anerkannt werden, steigt ihr Interesse und die Tüchtigkeit. Bei fortwährendem
Tadel sinkt die Lernbereitschaft. Besonders gering sind Lernwille und
Leistung, wenn Jugendliche nicht beachtet werden. Eltern und Lehrer sollten
nicht nur loben, sondern anerkennen: genau hinsehen, das Kind
als ganze Person erkennen. Bei Eltern und Erziehern, die Mut
machen, kommt es zu Freundlichkeit in der Beziehung. – Auch Lehrerinnen,
Lehrer und Eltern brauchen ein „gutes Wort“.
8. Angst macht krank und stört die Leistungsfähigkeit –
„Aufrufen“ muss nicht sein
Übermäßige Angst macht dumm, krank, unkonzentriert,
anpassungsbereit und schweigsam. Es gehört zur achtsamen Lehrer-Schüler-Beziehung,
Angst zu vermindern. Viele Kinder fürchten sich vor dem „Abfragen“
für Zensuren. Ihr Denken wird durch Angst blockiert, sie leisten
nicht, was ihnen eigentlich möglich wäre. „Mündliche
Leistungsnachweise“ können jedoch auf vielerlei Weise gefordert
werden, ohne Kinder zu erschrecken. Schüchterne Schüler leiden
besonders unter der Furcht vor dem „Drankommen“. Wenn sie
hingegen nur dann vor der Klasse sprechen müssen, wenn sie sich melden,
wird die Furcht verringert und sie werden durch das stützende Wort
der Lehrerin allmählich mutiger.
9. Schulbedingte psychosomatische Erkrankungen als Hilferuf auffassen
Aus psychologischen und medizinischen Untersuchungen der letzten Jahre
geht hervor:
-
20 % der Schüler sind von Kopfschmerz geplagt
-
48 % der 13- bis 15 Jährigen leiden häufig oder manchmal
unter Kopfschmerzen
-
40 % der Zwölfjährigen und 53 % der Siebzehnjährigen
nehmen regelmäßig Kopfschmerzmittel
-
24 % klagen über Bauchschmerzen, 30 % haben öfter Magenschmerzen
-
40 % zeigen beim Frühstück Appetitlosigkeit, 20 % der
Kinder ist manchmal vor dem Unterricht schlecht
-
30 % schlafen vor Klassenarbeiten schlecht, 25 % leiden manchmal
oder öfter unter Schlafstörungen
-
67 % haben bei Prüfungen ein komisches Gefühl im Magen
-
46 % verspüren in der Prüfungssituation Händezittern
-
61 % bekommen Herzklopfen, wenn die Probeblätter verteilt werden
-
18 % der Eltern geben an, die Schüler bräuchten gelegentlich
Beruhigungsmittel
Dass diese Befunde weder Diskussion noch Veränderung auslösen,
zeigt das hohe Maß an Gleichgültigkeit gegenüber den Schülern,
die an der Schule leiden und krank weden.
10. Schule kann gesund machen – Menschliche Pädagogik heilt
Das zeigte sich an psychisch und körperlich erkrankten Kindern.
Sie litten unter krankhaftem Bewegungsdrang, motorischer Unruhe, nervösen
Körperzuckungen, Konzentrationsunfähigkeit, gestörtem Lernen.
Die Symptome besserten sich, nachdem die Kinder ein Jahr lang offenen
Unterricht hatten: Viel Freiarbeit, Selbst-tätig-Sein, Einzel-, Partner-
und Kleingruppenarbeit, Beurteilung des individuellen Lernfortschritts
statt Zensuren, praktisch lernen. Die Schüler zeigten sich im freien
Unterricht weniger ängstlich, hatten größere Freude am
Lernen, Aggressivität nahm ab, sie schwänzten seltener, fanden
näheren Kontakt zum Lehrer und entwickelten untereinander freundliche
Beziehungen. Die Lehrer praktizierten eine schüler-orientierte Haltung.
Sie selbst fühlten sich im offenen Unterricht wohler.
11. Die Langsamkeit entdecken – Schüler haben ein Recht auf
Individualität
Kinder sollen nachhaltig lernen, dazu brauchen sie Zeit. Lernen
ist ein Wachstumsprozess, und Wachsen geht langsam vor sich. Wenn Eltern
und Lehrer Kinder unter Zeitdruck setzen, kommt innere Unruhe und Anspannung
auf. Den Langsamen wird oft Unrecht getan, nur weil sie langsam sind.
Die „Entdeckung der Langsamkeit“ wäre eine kinderfreundliche
Errungenschaft. Sie täte auch Eltern und Lehrern gut. Schüler
haben ein Recht auf ihre Individualität; Menschen sind verschieden,
auch im Hinblick auf Langsamkeit und Schnelligkeit. „Gras wächst
nicht schneller, wenn man daran zieht.“
12. Guter Unterricht schützt die Gesundheit – Lernfreude:
Kinder wollen lernen
-
Der Unterricht orientiert sich an den Interessen der Schüler
und weckt Interessen. Er fördert Lernbereitschaft und Lernfreude.
-
Lehrerinnen verschaffen den Kindern Erfolgserlebnisse durch
individuelle Leistungsanforderungen. Jeder Schüler lernt das
für ihn Erreichbare und wird vor entmutigenden Misserfolgen geschützt.
-
Kinder bekommen Zeit, um in ihrem persönlichen Arbeitstempo
zu lernen.
-
Sie dürfen mit „Herz, Kopf und Hand“ selbst-tätig
sein, ihre Eigenaktivität erleben und dabei ermutigende
Erfahrungen machen, die das Selbstvertrauen stärken.
-
Lehrerinnen und Lehrer messen den individuellen Lernfortschritt;
sie benoten nicht mit Ziffern, sondern unterstützen das Lernen
durch genaue Lernberichte.
-
Die Schüler gehen eine sichere Beziehung zu Lehrerinnen,
Lehrern und Mitschülern ein; das nimmt Angst und erhöht
das psycho-soziale Wohlbefinden.
-
Kinder und Jugendliche erleben das Lernen als sinn-voll
- nicht nur „für später“, sondern für ihre
jetzige Lebenssituation.
-
Jugendliche werden nicht zu rivalisierenden Konkurrenten gemacht,
sondern dürfen einander helfen, zusammenarbeiten. Partner-,
Kleingruppenarbeit und Kreisgespräch gehören zum Unterrichtsalltag.
-
Durch enge Eltern-Lehrer-Kontakte, Eltern- und Lehrermitsprache
entsteht eine Erziehungspartnerschaft, die das Schulklima entspannt.
Schüler-Lehrer-Eltern-Gespräche wecken Verständnis
füreinander.
-
Eltern, Lehrer und Schüler machen sich in pädagogischen
Grundfragen sachverständig. Das ermöglicht, eine pädagogische
Schule zu gestalten.
13. Seelisches Wohlbefinden erhält gesund – Was stärkt
die Persönlichkeit?
In psychologischen Untersuchungen und in der psychotherapeutischen Arbeit
zeigen sich Persönlichkeitsmerkmale, die den Menschen gesund erhalten.
-
Sichere Beziehung: Sich auf Eltern und Lehrer, auf andere
Menschen verlassen können, und diese als glaubwürdig erleben,
ist eine gesund erhaltende und heilende Kraft.
-
Selbstvertrauen und Mut: Das Bewusstsein, in Problemsituationen
wirkungsvoll handeln zu können, erhält gesund und stärkt
die körperliche Abwehr.
-
Heitere Grundstimmung: Freude erhöht die Widerstandskraft
gegen Infektionskrankheiten. Hingegen machen Furcht, Entmutigung,
Verzweiflung und Bedrückung anfällig für Ansteckung.
Positiv gestimmte Menschen werden seltener krank als pessimistische.
-
Aktive Lebensgestaltung: Überzeugt sein, Ereignisse
selbst beeinflussen zu können, eigene Gestaltungsfähigkeit
zu besitzen und nicht den Umständen ausgeliefert zu sein, stärkt
Seele und Körper.
-
Positives Selbstwertgefühl: Etwas gelten, als ganze
Person akzeptiert werden, davon überzeugt sein, dass man etwas
wert ist, trägt dazu bei, gesund zu bleiben.
-
Spontaneität und Eigen-Bewegung: Sich bewegen ist
für Kinder existenziell. Nur wenn sie sich ausreichend bewegen
dürfen, können sie körperliche Gesundheit und geistige
Beweglichkeit entfalten.
-
Zuversicht und Hoffnung: Menschen mit zuversichtlicher
Lebenseinstellung sind weniger krankheitsanfällig als solche,
die nicht auf Lebensglück hoffen können.
14. Was das Lernen fördert, dient der Gesundheit – Das Ich
der Kinder stärken
Was die Gesundheit schützt, hängt eng zusammen mit dem, was
das Lernen unterstützt.
-
Beziehungs-orientiert lernen: Halt-gebende Kontakte zu Lehrern
und Mitschülern, auf andere zugehen können, macht Kinder
sicher und stärkt ihren Lernwillen. Wenn sie persönlich
gesehen und akzeptiert werden, strengen sie sich mehr an.
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Das Selbstvertrauen stärken. Schüler erleben im
Unterricht, dass ihnen Lehrer etwas zutrauen. Aus der geglückten
Leistung erwächst das ermutigende Kraftgefühl eigenen Könnens.
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Mit Freude lernen stärkt den Leistungswillen; persönliches
Interesse weckt die Lernbereitschaft. Ein Lernklima der Freundlichkeit
beflügelt die Lernvorgänge.
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Handlungs-orientiert lernen unterstützt die geistige
und körperliche Eigen-Bewegung und hebt das Selbstbewusstsein.
Wenn Kinder schöpferisch sein dürfen, erleben sie sich als
ganze Person.
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Anwendungs-orientiert lernen lässt Kindern den Sinn
des Unterrichts erkennen. Die Schüler können mit dem Gelernten
etwas anfangen, es praktisch ausprobieren.
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Lernerfolg erfahren führt zu Zufriedenheit mit dem
Geleisteten und erhält die Hoffnung auf Erfolg. Lernerfolg ist
die beste Voraussetzung für weiteren Erfolg. Er versetzt Schülerinnen
und Schüler in eine zuversichtliche Stimmung.
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Eigenständig und selbst-bestimmt lernen festigt das
Selbstwertgefühl. Die Jugendlichen merken, dass es auf sie ankommt:
was sie tun, ist auch für andere wichtig ist. Sie spüren
ihre Eigenkräfte.
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